Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

andern in der Art abweichen, daß sich die Abweichung aus dem
Zusammensein mit dem Lateinischen erklärt, müssen wir uns an
die andern halten, die dann bestimmt den Vorzug verdienen.
Was aber in beiden Classen übereinstimmt, ist das am meisten
Verbreitete in geographischer Hinsicht. Diesem geben wir den
Vorzug, damit ist aber noch nicht gesagt, daß eine von beiden
Classificationen einen entschiedenen Vorzug habe.

Man hat nun aber noch andere Classificationen in Vorschlag
gebracht. Findet man, daß die Handschriften von der einen wie
der andern Classification in gewissen Lesearten übereinstimmen
und abweichen, und stellt man sich das Ähnliche und Verschie-
dene in gewissen Massen zusammen, so entsteht eine gewisse Phy-
siognomie. Darnach hat man die Handschriften familienweise
classificirt. Diese Familien werden dann auch Recensionen genannt,
was freilich etwas anderes ist, denn Recension ist absichtliche Con-
stitution eines Textes nach gewissen Maximen. Hat man nun
Grund dazu, solche Recensionen anzunehmen? Wir haben von
solchen eigentlich kritischen Bemühungen nicht soviel historische
Nachricht, daß wir als Thatsache feststellen könnten, daß Hand-
schriften in Masse darnach gemacht worden wären. Wir finden
freilich sehr zeitig kritische Vergleichungen, Verbesserungen aus
Conjectur, wie namentlich von Origenes. Allein es ist nicht nach-
weislich, daß nach seinen Verbesserungen Handschriften angefer-
tigt worden sind. Wo wir nun noch weniger Spuren von kriti-
scher Thätigkeit haben, da ist an Recension gar nicht zu denken.
Allein die Ansicht erhält von einer andern Seite Vorschub.

Fragen wir, wie die Vervielfältigung vor sich gegangen, so
fehlt es uns zwar an bestimmten Nachrichten, aber es wird wahr-
scheinlich, daß es damit zugegangen ist, wie mit der Sammlung
der neutest. Bücher. Es fanden sich in den sogenannten Metro-
polen Abschriften mehrerer Bücher des N. T., die man dann zu-
sammenfügte. Eben an solchen Centralpunkten der Kirche, wie
Constantinopel, Alexandrien, Rom, kamen Christen aus verschie-
denen Gegenden in Geschäften zusammen und gaben sich gegen-

andern in der Art abweichen, daß ſich die Abweichung aus dem
Zuſammenſein mit dem Lateiniſchen erklaͤrt, muͤſſen wir uns an
die andern halten, die dann beſtimmt den Vorzug verdienen.
Was aber in beiden Claſſen uͤbereinſtimmt, iſt das am meiſten
Verbreitete in geographiſcher Hinſicht. Dieſem geben wir den
Vorzug, damit iſt aber noch nicht geſagt, daß eine von beiden
Claſſificationen einen entſchiedenen Vorzug habe.

Man hat nun aber noch andere Claſſificationen in Vorſchlag
gebracht. Findet man, daß die Handſchriften von der einen wie
der andern Claſſification in gewiſſen Leſearten uͤbereinſtimmen
und abweichen, und ſtellt man ſich das Ähnliche und Verſchie-
dene in gewiſſen Maſſen zuſammen, ſo entſteht eine gewiſſe Phy-
ſiognomie. Darnach hat man die Handſchriften familienweiſe
claſſificirt. Dieſe Familien werden dann auch Recenſionen genannt,
was freilich etwas anderes iſt, denn Recenſion iſt abſichtliche Con-
ſtitution eines Textes nach gewiſſen Maximen. Hat man nun
Grund dazu, ſolche Recenſionen anzunehmen? Wir haben von
ſolchen eigentlich kritiſchen Bemuͤhungen nicht ſoviel hiſtoriſche
Nachricht, daß wir als Thatſache feſtſtellen koͤnnten, daß Hand-
ſchriften in Maſſe darnach gemacht worden waͤren. Wir finden
freilich ſehr zeitig kritiſche Vergleichungen, Verbeſſerungen aus
Conjectur, wie namentlich von Origenes. Allein es iſt nicht nach-
weislich, daß nach ſeinen Verbeſſerungen Handſchriften angefer-
tigt worden ſind. Wo wir nun noch weniger Spuren von kriti-
ſcher Thaͤtigkeit haben, da iſt an Recenſion gar nicht zu denken.
Allein die Anſicht erhaͤlt von einer andern Seite Vorſchub.

Fragen wir, wie die Vervielfaͤltigung vor ſich gegangen, ſo
fehlt es uns zwar an beſtimmten Nachrichten, aber es wird wahr-
ſcheinlich, daß es damit zugegangen iſt, wie mit der Sammlung
der neuteſt. Buͤcher. Es fanden ſich in den ſogenannten Metro-
polen Abſchriften mehrerer Buͤcher des N. T., die man dann zu-
ſammenfuͤgte. Eben an ſolchen Centralpunkten der Kirche, wie
Conſtantinopel, Alexandrien, Rom, kamen Chriſten aus verſchie-
denen Gegenden in Geſchaͤften zuſammen und gaben ſich gegen-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0341" n="317"/>
andern in der Art abweichen, daß &#x017F;ich die Abweichung aus dem<lb/>
Zu&#x017F;ammen&#x017F;ein mit dem Lateini&#x017F;chen erkla&#x0364;rt, mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en wir uns an<lb/>
die andern halten, die dann be&#x017F;timmt den Vorzug verdienen.<lb/>
Was aber in beiden Cla&#x017F;&#x017F;en u&#x0364;berein&#x017F;timmt, i&#x017F;t das am mei&#x017F;ten<lb/>
Verbreitete in geographi&#x017F;cher Hin&#x017F;icht. Die&#x017F;em geben wir den<lb/>
Vorzug, damit i&#x017F;t aber noch nicht ge&#x017F;agt, daß eine von beiden<lb/>
Cla&#x017F;&#x017F;ificationen einen ent&#x017F;chiedenen Vorzug habe.</p><lb/>
            <p>Man hat nun aber noch andere Cla&#x017F;&#x017F;ificationen in Vor&#x017F;chlag<lb/>
gebracht. Findet man, daß die Hand&#x017F;chriften von der einen wie<lb/>
der andern Cla&#x017F;&#x017F;ification in gewi&#x017F;&#x017F;en Le&#x017F;earten u&#x0364;berein&#x017F;timmen<lb/>
und abweichen, und &#x017F;tellt man &#x017F;ich das Ähnliche und Ver&#x017F;chie-<lb/>
dene in gewi&#x017F;&#x017F;en Ma&#x017F;&#x017F;en zu&#x017F;ammen, &#x017F;o ent&#x017F;teht eine gewi&#x017F;&#x017F;e Phy-<lb/>
&#x017F;iognomie. Darnach hat man die Hand&#x017F;chriften familienwei&#x017F;e<lb/>
cla&#x017F;&#x017F;ificirt. Die&#x017F;e Familien werden dann auch Recen&#x017F;ionen genannt,<lb/>
was freilich etwas anderes i&#x017F;t, denn Recen&#x017F;ion i&#x017F;t ab&#x017F;ichtliche Con-<lb/>
&#x017F;titution eines Textes nach gewi&#x017F;&#x017F;en Maximen. Hat man nun<lb/>
Grund dazu, &#x017F;olche Recen&#x017F;ionen anzunehmen? Wir haben von<lb/>
&#x017F;olchen eigentlich kriti&#x017F;chen Bemu&#x0364;hungen nicht &#x017F;oviel hi&#x017F;tori&#x017F;che<lb/>
Nachricht, daß wir als That&#x017F;ache fe&#x017F;t&#x017F;tellen ko&#x0364;nnten, daß Hand-<lb/>
&#x017F;chriften in Ma&#x017F;&#x017F;e darnach gemacht worden wa&#x0364;ren. Wir finden<lb/>
freilich &#x017F;ehr zeitig kriti&#x017F;che Vergleichungen, Verbe&#x017F;&#x017F;erungen aus<lb/>
Conjectur, wie namentlich von Origenes. Allein es i&#x017F;t nicht nach-<lb/>
weislich, daß nach &#x017F;einen Verbe&#x017F;&#x017F;erungen Hand&#x017F;chriften angefer-<lb/>
tigt worden &#x017F;ind. Wo wir nun noch weniger Spuren von kriti-<lb/>
&#x017F;cher Tha&#x0364;tigkeit haben, da i&#x017F;t an Recen&#x017F;ion gar nicht zu denken.<lb/>
Allein die An&#x017F;icht erha&#x0364;lt von einer andern Seite Vor&#x017F;chub.</p><lb/>
            <p>Fragen wir, wie die Vervielfa&#x0364;ltigung vor &#x017F;ich gegangen, &#x017F;o<lb/>
fehlt es uns zwar an be&#x017F;timmten Nachrichten, aber es wird wahr-<lb/>
&#x017F;cheinlich, daß es damit zugegangen i&#x017F;t, wie mit der Sammlung<lb/>
der neute&#x017F;t. Bu&#x0364;cher. Es fanden &#x017F;ich in den &#x017F;ogenannten Metro-<lb/>
polen Ab&#x017F;chriften mehrerer Bu&#x0364;cher des N. T., die man dann zu-<lb/>
&#x017F;ammenfu&#x0364;gte. Eben an &#x017F;olchen Centralpunkten der Kirche, wie<lb/>
Con&#x017F;tantinopel, Alexandrien, Rom, kamen Chri&#x017F;ten aus ver&#x017F;chie-<lb/>
denen Gegenden in Ge&#x017F;cha&#x0364;ften zu&#x017F;ammen und gaben &#x017F;ich gegen-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[317/0341] andern in der Art abweichen, daß ſich die Abweichung aus dem Zuſammenſein mit dem Lateiniſchen erklaͤrt, muͤſſen wir uns an die andern halten, die dann beſtimmt den Vorzug verdienen. Was aber in beiden Claſſen uͤbereinſtimmt, iſt das am meiſten Verbreitete in geographiſcher Hinſicht. Dieſem geben wir den Vorzug, damit iſt aber noch nicht geſagt, daß eine von beiden Claſſificationen einen entſchiedenen Vorzug habe. Man hat nun aber noch andere Claſſificationen in Vorſchlag gebracht. Findet man, daß die Handſchriften von der einen wie der andern Claſſification in gewiſſen Leſearten uͤbereinſtimmen und abweichen, und ſtellt man ſich das Ähnliche und Verſchie- dene in gewiſſen Maſſen zuſammen, ſo entſteht eine gewiſſe Phy- ſiognomie. Darnach hat man die Handſchriften familienweiſe claſſificirt. Dieſe Familien werden dann auch Recenſionen genannt, was freilich etwas anderes iſt, denn Recenſion iſt abſichtliche Con- ſtitution eines Textes nach gewiſſen Maximen. Hat man nun Grund dazu, ſolche Recenſionen anzunehmen? Wir haben von ſolchen eigentlich kritiſchen Bemuͤhungen nicht ſoviel hiſtoriſche Nachricht, daß wir als Thatſache feſtſtellen koͤnnten, daß Hand- ſchriften in Maſſe darnach gemacht worden waͤren. Wir finden freilich ſehr zeitig kritiſche Vergleichungen, Verbeſſerungen aus Conjectur, wie namentlich von Origenes. Allein es iſt nicht nach- weislich, daß nach ſeinen Verbeſſerungen Handſchriften angefer- tigt worden ſind. Wo wir nun noch weniger Spuren von kriti- ſcher Thaͤtigkeit haben, da iſt an Recenſion gar nicht zu denken. Allein die Anſicht erhaͤlt von einer andern Seite Vorſchub. Fragen wir, wie die Vervielfaͤltigung vor ſich gegangen, ſo fehlt es uns zwar an beſtimmten Nachrichten, aber es wird wahr- ſcheinlich, daß es damit zugegangen iſt, wie mit der Sammlung der neuteſt. Buͤcher. Es fanden ſich in den ſogenannten Metro- polen Abſchriften mehrerer Buͤcher des N. T., die man dann zu- ſammenfuͤgte. Eben an ſolchen Centralpunkten der Kirche, wie Conſtantinopel, Alexandrien, Rom, kamen Chriſten aus verſchie- denen Gegenden in Geſchaͤften zuſammen und gaben ſich gegen-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/341
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/341>, abgerufen am 22.12.2024.