Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

terschied der Zeit, denn die Cursivschrift ist später aufgekommen,
und die Uncialschrift zu gebrauchen hat man in einer gewissen
Zeit aufgehört. Die zweite Differenz ist die, daß es einige Hand-
schriften giebt, welche bloß den griechischen Text enthalten, an-
dere eine lateinische Interlinearversion. Diese Differenz bezeichnet
einen Unterschied der Gegend, denn die griechischlateinischen Ma-
nuscripte konnten nur in Gegenden entstehen, wo das Lateinische
Erleichterungsmittel war, also im Occident.

Können wir nun schlechthin sagen, die Cursivhandschriften,
weil im Allgemeinen jünger, seien bei Seite zu legen, und nur
an die Uncialhandschriften habe man sich halten? Nein denn
einer Cursivhandschrift kann unmittelbar eine Unicalhandschrift
zum Grunde liegen, man würde sich also in diesem Falle durch
jene Maxime wichtiger Materialien berauben. Es muß aber jenes
erst bewiesen werden. Sezen wir z. B. den Fall, daß eine Cur-
sivhandschrift aus dem 14ten Jahrhundert von einer Unicalhand-
schrift des 6ten Jahrhunderts abgeschrieben ist, welche verloren
gegangen ist. Haben wir nun mehrere Handschriften aus jener
früheren Zeit und die Cursivhandschrift bietet Lesearten, von de-
nen sich nicht geradezu nachweisen läßt, daß sie durch Irrungen
entstanden sind, die sich aber in keinem der älteren Dokumente
finden, so folgt, daß sie nicht sehr verbreitet gewesen sind. Auf
Lesearten aber, die zu einer gewissen Zeit nicht sehr verbreitet
gewesen, und isolirt erscheinen, ist wenig Rücksicht zu nehmen,
weil wir keine Gewährleistung haben, ob sie nicht gemacht sind.
Dieser Grundsaz läßt sich im Allgemeinen feststellen.

Wie ist es nun mit der andern Differenz? Was die In-
terlinearcodices betrifft, so ist in ihnen die lateinische Version als
exegetische Auctorität dazwischen gelegt. Nun giebt aber dieses
ein solches Verhältniß, daß wahrscheinlich dem Abschreiber das
Latein geläufiger gewesen, als das Griechische. Solche Hand-
schriften werden daher leicht die Neigung haben, Lateinisches auf-
zunehmen, zu latinisiren. Darum aber darf ihnen im Allgemei-
nen kein geringerer Werth beigelegt werden. Nur so oft sie von

terſchied der Zeit, denn die Curſivſchrift iſt ſpaͤter aufgekommen,
und die Uncialſchrift zu gebrauchen hat man in einer gewiſſen
Zeit aufgehoͤrt. Die zweite Differenz iſt die, daß es einige Hand-
ſchriften giebt, welche bloß den griechiſchen Text enthalten, an-
dere eine lateiniſche Interlinearverſion. Dieſe Differenz bezeichnet
einen Unterſchied der Gegend, denn die griechiſchlateiniſchen Ma-
nuſcripte konnten nur in Gegenden entſtehen, wo das Lateiniſche
Erleichterungsmittel war, alſo im Occident.

Koͤnnen wir nun ſchlechthin ſagen, die Curſivhandſchriften,
weil im Allgemeinen juͤnger, ſeien bei Seite zu legen, und nur
an die Uncialhandſchriften habe man ſich halten? Nein denn
einer Curſivhandſchrift kann unmittelbar eine Unicalhandſchrift
zum Grunde liegen, man wuͤrde ſich alſo in dieſem Falle durch
jene Maxime wichtiger Materialien berauben. Es muß aber jenes
erſt bewieſen werden. Sezen wir z. B. den Fall, daß eine Cur-
ſivhandſchrift aus dem 14ten Jahrhundert von einer Unicalhand-
ſchrift des 6ten Jahrhunderts abgeſchrieben iſt, welche verloren
gegangen iſt. Haben wir nun mehrere Handſchriften aus jener
fruͤheren Zeit und die Curſivhandſchrift bietet Leſearten, von de-
nen ſich nicht geradezu nachweiſen laͤßt, daß ſie durch Irrungen
entſtanden ſind, die ſich aber in keinem der aͤlteren Dokumente
finden, ſo folgt, daß ſie nicht ſehr verbreitet geweſen ſind. Auf
Leſearten aber, die zu einer gewiſſen Zeit nicht ſehr verbreitet
geweſen, und iſolirt erſcheinen, iſt wenig Ruͤckſicht zu nehmen,
weil wir keine Gewaͤhrleiſtung haben, ob ſie nicht gemacht ſind.
Dieſer Grundſaz laͤßt ſich im Allgemeinen feſtſtellen.

Wie iſt es nun mit der andern Differenz? Was die In-
terlinearcodices betrifft, ſo iſt in ihnen die lateiniſche Verſion als
exegetiſche Auctoritaͤt dazwiſchen gelegt. Nun giebt aber dieſes
ein ſolches Verhaͤltniß, daß wahrſcheinlich dem Abſchreiber das
Latein gelaͤufiger geweſen, als das Griechiſche. Solche Hand-
ſchriften werden daher leicht die Neigung haben, Lateiniſches auf-
zunehmen, zu latiniſiren. Darum aber darf ihnen im Allgemei-
nen kein geringerer Werth beigelegt werden. Nur ſo oft ſie von

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0340" n="316"/>
ter&#x017F;chied der Zeit, denn die Cur&#x017F;iv&#x017F;chrift i&#x017F;t &#x017F;pa&#x0364;ter aufgekommen,<lb/>
und die Uncial&#x017F;chrift zu gebrauchen hat man in einer gewi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Zeit aufgeho&#x0364;rt. Die zweite Differenz i&#x017F;t die, daß es einige Hand-<lb/>
&#x017F;chriften giebt, welche bloß den griechi&#x017F;chen Text enthalten, an-<lb/>
dere eine lateini&#x017F;che Interlinearver&#x017F;ion. Die&#x017F;e Differenz bezeichnet<lb/>
einen Unter&#x017F;chied der Gegend, denn die griechi&#x017F;chlateini&#x017F;chen Ma-<lb/>
nu&#x017F;cripte konnten nur in Gegenden ent&#x017F;tehen, wo das Lateini&#x017F;che<lb/>
Erleichterungsmittel war, al&#x017F;o im Occident.</p><lb/>
            <p>Ko&#x0364;nnen wir nun &#x017F;chlechthin &#x017F;agen, die Cur&#x017F;ivhand&#x017F;chriften,<lb/>
weil im Allgemeinen ju&#x0364;nger, &#x017F;eien bei Seite zu legen, und nur<lb/>
an die Uncialhand&#x017F;chriften habe man &#x017F;ich halten? Nein denn<lb/>
einer Cur&#x017F;ivhand&#x017F;chrift kann unmittelbar eine Unicalhand&#x017F;chrift<lb/>
zum Grunde liegen, man wu&#x0364;rde &#x017F;ich al&#x017F;o in die&#x017F;em Falle durch<lb/>
jene Maxime wichtiger Materialien berauben. Es muß aber jenes<lb/>
er&#x017F;t bewie&#x017F;en werden. Sezen wir z. B. den Fall, daß eine Cur-<lb/>
&#x017F;ivhand&#x017F;chrift aus dem 14ten Jahrhundert von einer Unicalhand-<lb/>
&#x017F;chrift des 6ten Jahrhunderts abge&#x017F;chrieben i&#x017F;t, welche verloren<lb/>
gegangen i&#x017F;t. Haben wir nun mehrere Hand&#x017F;chriften aus jener<lb/>
fru&#x0364;heren Zeit und die Cur&#x017F;ivhand&#x017F;chrift bietet Le&#x017F;earten, von de-<lb/>
nen &#x017F;ich nicht geradezu nachwei&#x017F;en la&#x0364;ßt, daß &#x017F;ie durch Irrungen<lb/>
ent&#x017F;tanden &#x017F;ind, die &#x017F;ich aber in keinem der a&#x0364;lteren Dokumente<lb/>
finden, &#x017F;o folgt, daß &#x017F;ie nicht &#x017F;ehr verbreitet gewe&#x017F;en &#x017F;ind. Auf<lb/>
Le&#x017F;earten aber, die zu einer gewi&#x017F;&#x017F;en Zeit nicht &#x017F;ehr verbreitet<lb/>
gewe&#x017F;en, und i&#x017F;olirt er&#x017F;cheinen, i&#x017F;t wenig Ru&#x0364;ck&#x017F;icht zu nehmen,<lb/>
weil wir keine Gewa&#x0364;hrlei&#x017F;tung haben, ob &#x017F;ie nicht gemacht &#x017F;ind.<lb/>
Die&#x017F;er Grund&#x017F;az la&#x0364;ßt &#x017F;ich im Allgemeinen fe&#x017F;t&#x017F;tellen.</p><lb/>
            <p>Wie i&#x017F;t es nun mit der andern Differenz? Was die In-<lb/>
terlinearcodices betrifft, &#x017F;o i&#x017F;t in ihnen die lateini&#x017F;che Ver&#x017F;ion als<lb/>
exegeti&#x017F;che Auctorita&#x0364;t dazwi&#x017F;chen gelegt. Nun giebt aber die&#x017F;es<lb/>
ein &#x017F;olches Verha&#x0364;ltniß, daß wahr&#x017F;cheinlich dem Ab&#x017F;chreiber das<lb/>
Latein gela&#x0364;ufiger gewe&#x017F;en, als das Griechi&#x017F;che. Solche Hand-<lb/>
&#x017F;chriften werden daher leicht die Neigung haben, Lateini&#x017F;ches auf-<lb/>
zunehmen, zu latini&#x017F;iren. Darum aber darf ihnen im Allgemei-<lb/>
nen kein geringerer Werth beigelegt werden. Nur &#x017F;o oft &#x017F;ie von<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[316/0340] terſchied der Zeit, denn die Curſivſchrift iſt ſpaͤter aufgekommen, und die Uncialſchrift zu gebrauchen hat man in einer gewiſſen Zeit aufgehoͤrt. Die zweite Differenz iſt die, daß es einige Hand- ſchriften giebt, welche bloß den griechiſchen Text enthalten, an- dere eine lateiniſche Interlinearverſion. Dieſe Differenz bezeichnet einen Unterſchied der Gegend, denn die griechiſchlateiniſchen Ma- nuſcripte konnten nur in Gegenden entſtehen, wo das Lateiniſche Erleichterungsmittel war, alſo im Occident. Koͤnnen wir nun ſchlechthin ſagen, die Curſivhandſchriften, weil im Allgemeinen juͤnger, ſeien bei Seite zu legen, und nur an die Uncialhandſchriften habe man ſich halten? Nein denn einer Curſivhandſchrift kann unmittelbar eine Unicalhandſchrift zum Grunde liegen, man wuͤrde ſich alſo in dieſem Falle durch jene Maxime wichtiger Materialien berauben. Es muß aber jenes erſt bewieſen werden. Sezen wir z. B. den Fall, daß eine Cur- ſivhandſchrift aus dem 14ten Jahrhundert von einer Unicalhand- ſchrift des 6ten Jahrhunderts abgeſchrieben iſt, welche verloren gegangen iſt. Haben wir nun mehrere Handſchriften aus jener fruͤheren Zeit und die Curſivhandſchrift bietet Leſearten, von de- nen ſich nicht geradezu nachweiſen laͤßt, daß ſie durch Irrungen entſtanden ſind, die ſich aber in keinem der aͤlteren Dokumente finden, ſo folgt, daß ſie nicht ſehr verbreitet geweſen ſind. Auf Leſearten aber, die zu einer gewiſſen Zeit nicht ſehr verbreitet geweſen, und iſolirt erſcheinen, iſt wenig Ruͤckſicht zu nehmen, weil wir keine Gewaͤhrleiſtung haben, ob ſie nicht gemacht ſind. Dieſer Grundſaz laͤßt ſich im Allgemeinen feſtſtellen. Wie iſt es nun mit der andern Differenz? Was die In- terlinearcodices betrifft, ſo iſt in ihnen die lateiniſche Verſion als exegetiſche Auctoritaͤt dazwiſchen gelegt. Nun giebt aber dieſes ein ſolches Verhaͤltniß, daß wahrſcheinlich dem Abſchreiber das Latein gelaͤufiger geweſen, als das Griechiſche. Solche Hand- ſchriften werden daher leicht die Neigung haben, Lateiniſches auf- zunehmen, zu latiniſiren. Darum aber darf ihnen im Allgemei- nen kein geringerer Werth beigelegt werden. Nur ſo oft ſie von

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/340
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/340>, abgerufen am 04.05.2024.