die Gesammtheit aller kritischen Differenzen. Das erstere reicht nicht aus. Denn, um das kritische Urtheil des Herausgebers prüfen und seine Operation nachconstruiren zu können, muß ich alles das, was er vor sich hatte, auch vor mir haben. Nun läßt sich dieß aber offenbar nur bei einer gewissen Beschränktheit der vorhandenen Hülfsmittel leisten, wenn es sich um Verglei- chung von drei oder vier Handschriften handelt. Wir können bei einer besonders bedeutenden Stelle die Darstellung wol erweitern, aber beschränkt muß doch der Apparat sein, wenn er brauchbar sein soll. Die Verkürzung des Materials ist z. B. in dem Falle ganz in der Ordnung, wenn alle Handschriften bis auf zwei übereinstimmen. Da braucht eben nur diese Differenz angegeben zu sein, von den andern folgt dann, daß sie mit dem Texte Gleiches haben. Denken, wir aber den Fall einer großen Menge von Handschriften, und unter ihnen eine große Mannigfaltigkeit der kritischen Differenz, wollte man da alle diese Differenzen zu- sammenstellen, so würde der Apparat eine ungeheure Masse wer- den. Müßte man dann für jeden einzelnen Fall die ganze Masse durcharbeiten, so würde die Aufgabe in jeder Beziehung eine un- endliche werden. In diesem Falle ist die Vollständigkeit des Appa- rats nicht zu erreichen und auch nicht heilsam. Was soll dann aber geschehen, um die möglichste Sicherheit hervorzubringen und die Leser in den Stand zu sezen, sich aus allem Vorhandenen ein Urtheil zu bilden? Es ist dann nöthig, daß sich der Heraus- geber erst mit dem Leser über gewisse Hauptpunkte verständigt, nemlich über die Gründe, warum er auf diese oder jene Hand- schriften keine Rücksichten nimmt, andere dagegen besonders hoch- schäzt. Es giebt offenbar verschiedene Principien und verschiedene Gesichtspunkte bei der Anlegung eines kritischen Apparats. Sezen wir den Fall, daß eine Schrift in einer Controverse liegt. Sagt nun der Herausgeber, er schließe solche Handschriften aus und nehme in streitigen Fällen auf sie gar keine Rücksicht, eben weil sie mit in der Controverse gesteckt, und deßhalb Gefahr sei, daß in ihnen der Sinn des Schriftstellers alterirt worden, so werden
die Geſammtheit aller kritiſchen Differenzen. Das erſtere reicht nicht aus. Denn, um das kritiſche Urtheil des Herausgebers pruͤfen und ſeine Operation nachconſtruiren zu koͤnnen, muß ich alles das, was er vor ſich hatte, auch vor mir haben. Nun laͤßt ſich dieß aber offenbar nur bei einer gewiſſen Beſchraͤnktheit der vorhandenen Huͤlfsmittel leiſten, wenn es ſich um Verglei- chung von drei oder vier Handſchriften handelt. Wir koͤnnen bei einer beſonders bedeutenden Stelle die Darſtellung wol erweitern, aber beſchraͤnkt muß doch der Apparat ſein, wenn er brauchbar ſein ſoll. Die Verkuͤrzung des Materials iſt z. B. in dem Falle ganz in der Ordnung, wenn alle Handſchriften bis auf zwei uͤbereinſtimmen. Da braucht eben nur dieſe Differenz angegeben zu ſein, von den andern folgt dann, daß ſie mit dem Texte Gleiches haben. Denken, wir aber den Fall einer großen Menge von Handſchriften, und unter ihnen eine große Mannigfaltigkeit der kritiſchen Differenz, wollte man da alle dieſe Differenzen zu- ſammenſtellen, ſo wuͤrde der Apparat eine ungeheure Maſſe wer- den. Muͤßte man dann fuͤr jeden einzelnen Fall die ganze Maſſe durcharbeiten, ſo wuͤrde die Aufgabe in jeder Beziehung eine un- endliche werden. In dieſem Falle iſt die Vollſtaͤndigkeit des Appa- rats nicht zu erreichen und auch nicht heilſam. Was ſoll dann aber geſchehen, um die moͤglichſte Sicherheit hervorzubringen und die Leſer in den Stand zu ſezen, ſich aus allem Vorhandenen ein Urtheil zu bilden? Es iſt dann noͤthig, daß ſich der Heraus- geber erſt mit dem Leſer uͤber gewiſſe Hauptpunkte verſtaͤndigt, nemlich uͤber die Gruͤnde, warum er auf dieſe oder jene Hand- ſchriften keine Ruͤckſichten nimmt, andere dagegen beſonders hoch- ſchaͤzt. Es giebt offenbar verſchiedene Principien und verſchiedene Geſichtspunkte bei der Anlegung eines kritiſchen Apparats. Sezen wir den Fall, daß eine Schrift in einer Controverſe liegt. Sagt nun der Herausgeber, er ſchließe ſolche Handſchriften aus und nehme in ſtreitigen Faͤllen auf ſie gar keine Ruͤckſicht, eben weil ſie mit in der Controverſe geſteckt, und deßhalb Gefahr ſei, daß in ihnen der Sinn des Schriftſtellers alterirt worden, ſo werden
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die Geſammtheit aller kritiſchen Differenzen. Das erſtere reicht
nicht aus. Denn, um das kritiſche Urtheil des Herausgebers
pruͤfen und ſeine Operation nachconſtruiren zu koͤnnen, muß ich
alles das, was er vor ſich hatte, auch vor mir haben. Nun
laͤßt ſich dieß aber offenbar nur bei einer gewiſſen Beſchraͤnktheit
der vorhandenen Huͤlfsmittel leiſten, wenn es ſich um Verglei-
chung von drei oder vier Handſchriften handelt. Wir koͤnnen bei
einer beſonders bedeutenden Stelle die Darſtellung wol erweitern,
aber beſchraͤnkt muß doch der Apparat ſein, wenn er brauchbar
ſein ſoll. Die Verkuͤrzung des Materials iſt z. B. in dem Falle
ganz in der Ordnung, wenn alle Handſchriften bis auf zwei
uͤbereinſtimmen. Da braucht eben nur dieſe Differenz angegeben
zu ſein, von den andern folgt dann, daß ſie mit dem Texte
Gleiches haben. Denken, wir aber den Fall einer großen Menge
von Handſchriften, und unter ihnen eine große Mannigfaltigkeit
der kritiſchen Differenz, wollte man da alle dieſe Differenzen zu-
ſammenſtellen, ſo wuͤrde der Apparat eine ungeheure Maſſe wer-
den. Muͤßte man dann fuͤr jeden einzelnen Fall die ganze Maſſe
durcharbeiten, ſo wuͤrde die Aufgabe in jeder Beziehung eine un-
endliche werden. In dieſem Falle iſt die Vollſtaͤndigkeit des Appa-
rats nicht zu erreichen und auch nicht heilſam. Was ſoll dann
aber geſchehen, um die moͤglichſte Sicherheit hervorzubringen und
die Leſer in den Stand zu ſezen, ſich aus allem Vorhandenen ein
Urtheil zu bilden? Es iſt dann noͤthig, daß ſich der Heraus-
geber erſt mit dem Leſer uͤber gewiſſe Hauptpunkte verſtaͤndigt,
nemlich uͤber die Gruͤnde, warum er auf dieſe oder jene Hand-
ſchriften keine Ruͤckſichten nimmt, andere dagegen beſonders hoch-
ſchaͤzt. Es giebt offenbar verſchiedene Principien und verſchiedene
Geſichtspunkte bei der Anlegung eines kritiſchen Apparats. Sezen
wir den Fall, daß eine Schrift in einer Controverſe liegt. Sagt
nun der Herausgeber, er ſchließe ſolche Handſchriften aus und
nehme in ſtreitigen Faͤllen auf ſie gar keine Ruͤckſicht, eben weil
ſie mit in der Controverſe geſteckt, und deßhalb Gefahr ſei, daß
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/322>, abgerufen am 22.12.2024.
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