Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

schreiben. So kann es mehrere Produkte geben, von denen wir
gestehen müssen, daß das philologische Verfahren anzuwenden
eben keinen besonderen Nuzen gewähre, der dem Aufwande von
Kraft und Zeit entspräche. Also beschränkt sich auch hier die
Aufgabe.

Nun entsteht aber eine Nebenaufgabe. Das Abschreiben ist
eine mechanische Operation, die bald auf diese bald auf jene Weise
kann getrieben werden. Die Buchstabenschrift hat zu verschiede-
nen Zeiten ihre verschiedenen Gestaltungen, welche auch verschie-
dene mechanische Irrungen hervorbringen kann. Ist die Differenz
der Zeit zwischen der Urschrift und Abschrift bekannt, und giebt
es in dieser Zwischenzeit verschiedene Gestaltungen der Schrift, so
ist möglich, daß jede Irrung ihre eigene Geschichte hat. Es kön-
nen Irrungen aus ganz verschiedenen Zeiten herstammen. Um
dieß zu wissen, werden paläographische Kenntnisse und
Studien
erfordert.

Es giebt Schriftzeichen, die mit der grammatischen Position der
Wörter zusammenhängen, die aber in verschiedenen Zeiten ver-
schieden sind. Sobald nun eine Abschrift mehr dem Charakter
ihrer Zeit, als dem der Urschrift folgt, entstehen ganz neue und
zusammengeseztere Irrungen. Hier finden wir also die unmittel-
bar philologische Aufgabe, die Geschichte der Sprache und Schrift
in ihren verschiedenen Existenzialverhältnissen zu erforschen. Die
Vergleichung der Urkunden hat zugleich wieder den Zweck, jene
geschichtlichen Momente festzustellen, weil wir sie eben nur in
diesen Überbleibseln haben, wozu die Schriftsteller, die darüber
geschrieben haben, nur Complemente sind. Da kann ein Schrift-
steller, der an und für sich wenig Bedeutung hat und in schrift-
stellerischer Hinsicht keine Mühe belohnt, doch in paläographischer
Hinsicht von großem Werthe sein. So entstehen Gesichtspunkte
und Werthe, die man von dem einfachen hermeneutischen Stand-
punkte aus gar nicht findet. Das paläographische Studium für
sich ist ein rein historisches, man kann es eigentlich nicht mehr
zur Kritik rechnen. Aber es kann ohne Kritik nicht bestehen,

ſchreiben. So kann es mehrere Produkte geben, von denen wir
geſtehen muͤſſen, daß das philologiſche Verfahren anzuwenden
eben keinen beſonderen Nuzen gewaͤhre, der dem Aufwande von
Kraft und Zeit entſpraͤche. Alſo beſchraͤnkt ſich auch hier die
Aufgabe.

Nun entſteht aber eine Nebenaufgabe. Das Abſchreiben iſt
eine mechaniſche Operation, die bald auf dieſe bald auf jene Weiſe
kann getrieben werden. Die Buchſtabenſchrift hat zu verſchiede-
nen Zeiten ihre verſchiedenen Geſtaltungen, welche auch verſchie-
dene mechaniſche Irrungen hervorbringen kann. Iſt die Differenz
der Zeit zwiſchen der Urſchrift und Abſchrift bekannt, und giebt
es in dieſer Zwiſchenzeit verſchiedene Geſtaltungen der Schrift, ſo
iſt moͤglich, daß jede Irrung ihre eigene Geſchichte hat. Es koͤn-
nen Irrungen aus ganz verſchiedenen Zeiten herſtammen. Um
dieß zu wiſſen, werden palaͤographiſche Kenntniſſe und
Studien
erfordert.

Es giebt Schriftzeichen, die mit der grammatiſchen Poſition der
Woͤrter zuſammenhaͤngen, die aber in verſchiedenen Zeiten ver-
ſchieden ſind. Sobald nun eine Abſchrift mehr dem Charakter
ihrer Zeit, als dem der Urſchrift folgt, entſtehen ganz neue und
zuſammengeſeztere Irrungen. Hier finden wir alſo die unmittel-
bar philologiſche Aufgabe, die Geſchichte der Sprache und Schrift
in ihren verſchiedenen Exiſtenzialverhaͤltniſſen zu erforſchen. Die
Vergleichung der Urkunden hat zugleich wieder den Zweck, jene
geſchichtlichen Momente feſtzuſtellen, weil wir ſie eben nur in
dieſen Überbleibſeln haben, wozu die Schriftſteller, die daruͤber
geſchrieben haben, nur Complemente ſind. Da kann ein Schrift-
ſteller, der an und fuͤr ſich wenig Bedeutung hat und in ſchrift-
ſtelleriſcher Hinſicht keine Muͤhe belohnt, doch in palaͤographiſcher
Hinſicht von großem Werthe ſein. So entſtehen Geſichtspunkte
und Werthe, die man von dem einfachen hermeneutiſchen Stand-
punkte aus gar nicht findet. Das palaͤographiſche Studium fuͤr
ſich iſt ein rein hiſtoriſches, man kann es eigentlich nicht mehr
zur Kritik rechnen. Aber es kann ohne Kritik nicht beſtehen,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0318" n="294"/>
&#x017F;chreiben. So kann es mehrere Produkte geben, von denen wir<lb/>
ge&#x017F;tehen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, daß das philologi&#x017F;che Verfahren anzuwenden<lb/>
eben keinen be&#x017F;onderen Nuzen gewa&#x0364;hre, der dem Aufwande von<lb/>
Kraft und Zeit ent&#x017F;pra&#x0364;che. Al&#x017F;o be&#x017F;chra&#x0364;nkt &#x017F;ich auch hier die<lb/>
Aufgabe.</p><lb/>
            <p>Nun ent&#x017F;teht aber eine Nebenaufgabe. Das Ab&#x017F;chreiben i&#x017F;t<lb/>
eine mechani&#x017F;che Operation, die bald auf die&#x017F;e bald auf jene Wei&#x017F;e<lb/>
kann getrieben werden. Die Buch&#x017F;taben&#x017F;chrift hat zu ver&#x017F;chiede-<lb/>
nen Zeiten ihre ver&#x017F;chiedenen Ge&#x017F;taltungen, welche auch ver&#x017F;chie-<lb/>
dene mechani&#x017F;che Irrungen hervorbringen kann. I&#x017F;t die Differenz<lb/>
der Zeit zwi&#x017F;chen der Ur&#x017F;chrift und Ab&#x017F;chrift bekannt, und giebt<lb/>
es in die&#x017F;er Zwi&#x017F;chenzeit ver&#x017F;chiedene Ge&#x017F;taltungen der Schrift, &#x017F;o<lb/>
i&#x017F;t mo&#x0364;glich, daß jede Irrung ihre eigene Ge&#x017F;chichte hat. Es ko&#x0364;n-<lb/>
nen Irrungen aus ganz ver&#x017F;chiedenen Zeiten her&#x017F;tammen. Um<lb/>
dieß zu wi&#x017F;&#x017F;en, werden <hi rendition="#g">pala&#x0364;ographi&#x017F;che Kenntni&#x017F;&#x017F;e und<lb/>
Studien</hi> erfordert.</p><lb/>
            <p>Es giebt Schriftzeichen, die mit der grammati&#x017F;chen Po&#x017F;ition der<lb/>
Wo&#x0364;rter zu&#x017F;ammenha&#x0364;ngen, die aber in ver&#x017F;chiedenen Zeiten ver-<lb/>
&#x017F;chieden &#x017F;ind. Sobald nun eine Ab&#x017F;chrift mehr dem Charakter<lb/>
ihrer Zeit, als dem der Ur&#x017F;chrift folgt, ent&#x017F;tehen ganz neue und<lb/>
zu&#x017F;ammenge&#x017F;eztere Irrungen. Hier finden wir al&#x017F;o die unmittel-<lb/>
bar philologi&#x017F;che Aufgabe, die Ge&#x017F;chichte der Sprache und Schrift<lb/>
in ihren ver&#x017F;chiedenen Exi&#x017F;tenzialverha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en zu erfor&#x017F;chen. Die<lb/>
Vergleichung der Urkunden hat zugleich wieder den Zweck, jene<lb/>
ge&#x017F;chichtlichen Momente fe&#x017F;tzu&#x017F;tellen, weil wir &#x017F;ie eben nur in<lb/>
die&#x017F;en Überbleib&#x017F;eln haben, wozu die Schrift&#x017F;teller, die daru&#x0364;ber<lb/>
ge&#x017F;chrieben haben, nur Complemente &#x017F;ind. Da kann ein Schrift-<lb/>
&#x017F;teller, der an und fu&#x0364;r &#x017F;ich wenig Bedeutung hat und in &#x017F;chrift-<lb/>
&#x017F;telleri&#x017F;cher Hin&#x017F;icht keine Mu&#x0364;he belohnt, doch in pala&#x0364;ographi&#x017F;cher<lb/>
Hin&#x017F;icht von großem Werthe &#x017F;ein. So ent&#x017F;tehen Ge&#x017F;ichtspunkte<lb/>
und Werthe, die man von dem einfachen hermeneuti&#x017F;chen Stand-<lb/>
punkte aus gar nicht findet. Das pala&#x0364;ographi&#x017F;che Studium fu&#x0364;r<lb/>
&#x017F;ich i&#x017F;t ein rein hi&#x017F;tori&#x017F;ches, man kann es eigentlich nicht mehr<lb/>
zur Kritik rechnen. Aber es kann ohne Kritik nicht be&#x017F;tehen,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[294/0318] ſchreiben. So kann es mehrere Produkte geben, von denen wir geſtehen muͤſſen, daß das philologiſche Verfahren anzuwenden eben keinen beſonderen Nuzen gewaͤhre, der dem Aufwande von Kraft und Zeit entſpraͤche. Alſo beſchraͤnkt ſich auch hier die Aufgabe. Nun entſteht aber eine Nebenaufgabe. Das Abſchreiben iſt eine mechaniſche Operation, die bald auf dieſe bald auf jene Weiſe kann getrieben werden. Die Buchſtabenſchrift hat zu verſchiede- nen Zeiten ihre verſchiedenen Geſtaltungen, welche auch verſchie- dene mechaniſche Irrungen hervorbringen kann. Iſt die Differenz der Zeit zwiſchen der Urſchrift und Abſchrift bekannt, und giebt es in dieſer Zwiſchenzeit verſchiedene Geſtaltungen der Schrift, ſo iſt moͤglich, daß jede Irrung ihre eigene Geſchichte hat. Es koͤn- nen Irrungen aus ganz verſchiedenen Zeiten herſtammen. Um dieß zu wiſſen, werden palaͤographiſche Kenntniſſe und Studien erfordert. Es giebt Schriftzeichen, die mit der grammatiſchen Poſition der Woͤrter zuſammenhaͤngen, die aber in verſchiedenen Zeiten ver- ſchieden ſind. Sobald nun eine Abſchrift mehr dem Charakter ihrer Zeit, als dem der Urſchrift folgt, entſtehen ganz neue und zuſammengeſeztere Irrungen. Hier finden wir alſo die unmittel- bar philologiſche Aufgabe, die Geſchichte der Sprache und Schrift in ihren verſchiedenen Exiſtenzialverhaͤltniſſen zu erforſchen. Die Vergleichung der Urkunden hat zugleich wieder den Zweck, jene geſchichtlichen Momente feſtzuſtellen, weil wir ſie eben nur in dieſen Überbleibſeln haben, wozu die Schriftſteller, die daruͤber geſchrieben haben, nur Complemente ſind. Da kann ein Schrift- ſteller, der an und fuͤr ſich wenig Bedeutung hat und in ſchrift- ſtelleriſcher Hinſicht keine Muͤhe belohnt, doch in palaͤographiſcher Hinſicht von großem Werthe ſein. So entſtehen Geſichtspunkte und Werthe, die man von dem einfachen hermeneutiſchen Stand- punkte aus gar nicht findet. Das palaͤographiſche Studium fuͤr ſich iſt ein rein hiſtoriſches, man kann es eigentlich nicht mehr zur Kritik rechnen. Aber es kann ohne Kritik nicht beſtehen,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/318
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/318>, abgerufen am 22.12.2024.