weil zu beurtheilen ist, ob eine vorkommende Form zu einer ge- wissen Zeit wirklich übliche Form gewesen oder ein Fehler des Abschreibers ist.
Fragen wir nun, kann man sich in der Lösung der kritischen Aufgabe unter allen Umständen immer dasselbe Ziel sezen?
Vom allgemeinen philologischen Standpunkte aus haben wir, wie gesagt, immer das Interesse, zu fragen, wie der Schriftsteller ursprünglich geschrieben habe. Können wir dieß in allen Fällen ausmitteln?
Wir unterscheiden die divinatorische und urkundliche Me- thode. Weiß man genau, wie zur Zeit des Schriftstellers geschrie- ben ist, und kann man seinen Sprachgebrauch sicher bestimmen, so kann man sich mit der divinatorischen Kritik jenes Ziel sezen, zu bestimmen, wie der Verfasser ursprünglich geschrieben habe. Aber wie viel gehört dazu, um jene Voraussezungen mit Sicher- heit zu machen! Was die urkundliche Methode betrifft, so giebt es allerdings oft Fälle, wo sie sich jenes Ziel nicht sezen kann. Nemlich die Fälle, wo wie bei Homer zweifelhaft ist, ob es je- mals eine Urschrift gegeben, oder wo die Zeitdifferenz zwischen der Urschrift und den ältesten Abschriften, die wir haben, bedeutend groß ist, so daß eine Menge von Zwischenpunkten fehlen, wo unbekannte Quellen von Fehlern liegen können, und kein Übergang zur Urschrift in Beziehung auf mechanische Fehler zu entdecken ist, -- in solchen Fällen ist jene Aufgabe durchaus nicht mehr zu lösen, und man muß sich, wie z. B. bei den Homerischen Werken, be- gnügen, auf die Schreibweise der Alexandrinischen Grammatiker zurückzugehen. Hier sind also die verschiedenen Interessen zu son- dern, das hermeneutische und das allgemein philologische. Das leztere kann sich eine Grenze sezen, womit sich die hermeneutische Aufgabe nicht begnügen kann. Darnach ist denn das Verfahren nothwendig verschieden.
Haben wir von einem alten Schriftsteller einen gedruckten Text vor uns, so ist die Frage natürlich, wie dieser entstanden sei? Es sind verschiedene Verfahrungsweisen denkbar. Weiß ich
weil zu beurtheilen iſt, ob eine vorkommende Form zu einer ge- wiſſen Zeit wirklich uͤbliche Form geweſen oder ein Fehler des Abſchreibers iſt.
Fragen wir nun, kann man ſich in der Loͤſung der kritiſchen Aufgabe unter allen Umſtaͤnden immer daſſelbe Ziel ſezen?
Vom allgemeinen philologiſchen Standpunkte aus haben wir, wie geſagt, immer das Intereſſe, zu fragen, wie der Schriftſteller urſpruͤnglich geſchrieben habe. Koͤnnen wir dieß in allen Faͤllen ausmitteln?
Wir unterſcheiden die divinatoriſche und urkundliche Me- thode. Weiß man genau, wie zur Zeit des Schriftſtellers geſchrie- ben iſt, und kann man ſeinen Sprachgebrauch ſicher beſtimmen, ſo kann man ſich mit der divinatoriſchen Kritik jenes Ziel ſezen, zu beſtimmen, wie der Verfaſſer urſpruͤnglich geſchrieben habe. Aber wie viel gehoͤrt dazu, um jene Vorausſezungen mit Sicher- heit zu machen! Was die urkundliche Methode betrifft, ſo giebt es allerdings oft Faͤlle, wo ſie ſich jenes Ziel nicht ſezen kann. Nemlich die Faͤlle, wo wie bei Homer zweifelhaft iſt, ob es je- mals eine Urſchrift gegeben, oder wo die Zeitdifferenz zwiſchen der Urſchrift und den aͤlteſten Abſchriften, die wir haben, bedeutend groß iſt, ſo daß eine Menge von Zwiſchenpunkten fehlen, wo unbekannte Quellen von Fehlern liegen koͤnnen, und kein Übergang zur Urſchrift in Beziehung auf mechaniſche Fehler zu entdecken iſt, — in ſolchen Faͤllen iſt jene Aufgabe durchaus nicht mehr zu loͤſen, und man muß ſich, wie z. B. bei den Homeriſchen Werken, be- gnuͤgen, auf die Schreibweiſe der Alexandriniſchen Grammatiker zuruͤckzugehen. Hier ſind alſo die verſchiedenen Intereſſen zu ſon- dern, das hermeneutiſche und das allgemein philologiſche. Das leztere kann ſich eine Grenze ſezen, womit ſich die hermeneutiſche Aufgabe nicht begnuͤgen kann. Darnach iſt denn das Verfahren nothwendig verſchieden.
Haben wir von einem alten Schriftſteller einen gedruckten Text vor uns, ſo iſt die Frage natuͤrlich, wie dieſer entſtanden ſei? Es ſind verſchiedene Verfahrungsweiſen denkbar. Weiß ich
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weil zu beurtheilen iſt, ob eine vorkommende Form zu einer ge-
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Abſchreibers iſt.
Fragen wir nun, kann man ſich in der Loͤſung der kritiſchen
Aufgabe unter allen Umſtaͤnden immer daſſelbe Ziel ſezen?
Vom allgemeinen philologiſchen Standpunkte aus haben wir,
wie geſagt, immer das Intereſſe, zu fragen, wie der Schriftſteller
urſpruͤnglich geſchrieben habe. Koͤnnen wir dieß in allen Faͤllen
ausmitteln?
Wir unterſcheiden die divinatoriſche und urkundliche Me-
thode. Weiß man genau, wie zur Zeit des Schriftſtellers geſchrie-
ben iſt, und kann man ſeinen Sprachgebrauch ſicher beſtimmen,
ſo kann man ſich mit der divinatoriſchen Kritik jenes Ziel ſezen,
zu beſtimmen, wie der Verfaſſer urſpruͤnglich geſchrieben habe.
Aber wie viel gehoͤrt dazu, um jene Vorausſezungen mit Sicher-
heit zu machen! Was die urkundliche Methode betrifft, ſo giebt
es allerdings oft Faͤlle, wo ſie ſich jenes Ziel nicht ſezen kann.
Nemlich die Faͤlle, wo wie bei Homer zweifelhaft iſt, ob es je-
mals eine Urſchrift gegeben, oder wo die Zeitdifferenz zwiſchen der
Urſchrift und den aͤlteſten Abſchriften, die wir haben, bedeutend
groß iſt, ſo daß eine Menge von Zwiſchenpunkten fehlen, wo
unbekannte Quellen von Fehlern liegen koͤnnen, und kein Übergang
zur Urſchrift in Beziehung auf mechaniſche Fehler zu entdecken
iſt, — in ſolchen Faͤllen iſt jene Aufgabe durchaus nicht mehr zu loͤſen,
und man muß ſich, wie z. B. bei den Homeriſchen Werken, be-
gnuͤgen, auf die Schreibweiſe der Alexandriniſchen Grammatiker
zuruͤckzugehen. Hier ſind alſo die verſchiedenen Intereſſen zu ſon-
dern, das hermeneutiſche und das allgemein philologiſche. Das
leztere kann ſich eine Grenze ſezen, womit ſich die hermeneutiſche
Aufgabe nicht begnuͤgen kann. Darnach iſt denn das Verfahren
nothwendig verſchieden.
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/319>, abgerufen am 22.12.2024.
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