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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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bald in eine ungeheure Confusion gerathen. Denn dann ist es
gleichgültig, ob ich richtige oder unrichtige Abschriften habe, wenn
ich nur den Sinn habe. Allein eben dieß wäre auch ganz unter
dem Begriff der wahren Hermeneutik. Da kommt es doch auch
auf das Verhältniß des Verfassers zur Sprache an. Um dieß
aber zu erkennen, muß auch bestimmt gewußt werden, was wirk-
lich ursprünglich gestanden hat. Da darf also nicht unentschieden
gelassen werden, ob die Differenz von dem Ursprünglichen ein Mi-
nimum oder größer ist. Es bleibt sonst eine leere Stelle für das
Verhältniß des Verfassers zur Sprache und je mehrere solche
leere Stellen ich erhalte, desto weniger kann ich ein Bild von
dem Verhältniß im Ganzen bekommen, und desto unsicherer wird
das ganze Bild von der Litteratur und Sprache.

Ist nun vom philologischen Gesichtspunkt aus nichts unnöthig
oder unwichtig, so stellt sich die Aufgabe so, bei der Restitution
des Richtigen nach der größten Genauigkeit und Gewißheit zu
streben. Dazu kommt, daß für die Kritik die Schrift auch außer
der Sprache etwas für sich ist und ihr Positives hat, was wenn
wir von der Schrift abstrahiren in der Rede nicht zum Vorschein
kommt. So in der französischen, wo einzelne Laute, ja ganze
in der Schrift erscheinende Sylben verschluckt werden. Eben so
kommt im Griechischen das iota subscriptum in der Rede nicht
vor. Für die Schrift aber ist dieß etwas Positives. Es wird
Niemand sagen können, daß, wenn wir die ganze kritische Ope-
ration als Ergänzung eines historischen Factums ansehen, das
positiv in der Schrift Gegebene gleichgültig wäre, sondern gerade
die Lösung der kritischen Aufgabe fordert oft in den einfachen
Fällen am meisten die Kenntniß jenes Positiven. Denn wenn
ich nicht weiß, daß dieß oder jenes geschrieben worden, so fehlt
mir die Leitung, aus dem, was ich als Ursprüngliches supponire,
das Falsche zu erklären, was ich oft nur aus den Schriftzügen
kann, zu denen diese positiven Elemente gehören. Nun ist es
auch für die Geschichte der Sprache bedeutend zu wissen, wie in ver-
schiedenen Zeiten die Schrift sich zur Sprache verhalte. Die Schrift

Hermeneutik u. Kritik. 19

bald in eine ungeheure Confuſion gerathen. Denn dann iſt es
gleichguͤltig, ob ich richtige oder unrichtige Abſchriften habe, wenn
ich nur den Sinn habe. Allein eben dieß waͤre auch ganz unter
dem Begriff der wahren Hermeneutik. Da kommt es doch auch
auf das Verhaͤltniß des Verfaſſers zur Sprache an. Um dieß
aber zu erkennen, muß auch beſtimmt gewußt werden, was wirk-
lich urſpruͤnglich geſtanden hat. Da darf alſo nicht unentſchieden
gelaſſen werden, ob die Differenz von dem Urſpruͤnglichen ein Mi-
nimum oder groͤßer iſt. Es bleibt ſonſt eine leere Stelle fuͤr das
Verhaͤltniß des Verfaſſers zur Sprache und je mehrere ſolche
leere Stellen ich erhalte, deſto weniger kann ich ein Bild von
dem Verhaͤltniß im Ganzen bekommen, und deſto unſicherer wird
das ganze Bild von der Litteratur und Sprache.

Iſt nun vom philologiſchen Geſichtspunkt aus nichts unnoͤthig
oder unwichtig, ſo ſtellt ſich die Aufgabe ſo, bei der Reſtitution
des Richtigen nach der groͤßten Genauigkeit und Gewißheit zu
ſtreben. Dazu kommt, daß fuͤr die Kritik die Schrift auch außer
der Sprache etwas fuͤr ſich iſt und ihr Poſitives hat, was wenn
wir von der Schrift abſtrahiren in der Rede nicht zum Vorſchein
kommt. So in der franzoͤſiſchen, wo einzelne Laute, ja ganze
in der Schrift erſcheinende Sylben verſchluckt werden. Eben ſo
kommt im Griechiſchen das iota subscriptum in der Rede nicht
vor. Fuͤr die Schrift aber iſt dieß etwas Poſitives. Es wird
Niemand ſagen koͤnnen, daß, wenn wir die ganze kritiſche Ope-
ration als Ergaͤnzung eines hiſtoriſchen Factums anſehen, das
poſitiv in der Schrift Gegebene gleichguͤltig waͤre, ſondern gerade
die Loͤſung der kritiſchen Aufgabe fordert oft in den einfachen
Faͤllen am meiſten die Kenntniß jenes Poſitiven. Denn wenn
ich nicht weiß, daß dieß oder jenes geſchrieben worden, ſo fehlt
mir die Leitung, aus dem, was ich als Urſpruͤngliches ſupponire,
das Falſche zu erklaͤren, was ich oft nur aus den Schriftzuͤgen
kann, zu denen dieſe poſitiven Elemente gehoͤren. Nun iſt es
auch fuͤr die Geſchichte der Sprache bedeutend zu wiſſen, wie in ver-
ſchiedenen Zeiten die Schrift ſich zur Sprache verhalte. Die Schrift

Hermeneutik u. Kritik. 19
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[289/0313] bald in eine ungeheure Confuſion gerathen. Denn dann iſt es gleichguͤltig, ob ich richtige oder unrichtige Abſchriften habe, wenn ich nur den Sinn habe. Allein eben dieß waͤre auch ganz unter dem Begriff der wahren Hermeneutik. Da kommt es doch auch auf das Verhaͤltniß des Verfaſſers zur Sprache an. Um dieß aber zu erkennen, muß auch beſtimmt gewußt werden, was wirk- lich urſpruͤnglich geſtanden hat. Da darf alſo nicht unentſchieden gelaſſen werden, ob die Differenz von dem Urſpruͤnglichen ein Mi- nimum oder groͤßer iſt. Es bleibt ſonſt eine leere Stelle fuͤr das Verhaͤltniß des Verfaſſers zur Sprache und je mehrere ſolche leere Stellen ich erhalte, deſto weniger kann ich ein Bild von dem Verhaͤltniß im Ganzen bekommen, und deſto unſicherer wird das ganze Bild von der Litteratur und Sprache. Iſt nun vom philologiſchen Geſichtspunkt aus nichts unnoͤthig oder unwichtig, ſo ſtellt ſich die Aufgabe ſo, bei der Reſtitution des Richtigen nach der groͤßten Genauigkeit und Gewißheit zu ſtreben. Dazu kommt, daß fuͤr die Kritik die Schrift auch außer der Sprache etwas fuͤr ſich iſt und ihr Poſitives hat, was wenn wir von der Schrift abſtrahiren in der Rede nicht zum Vorſchein kommt. So in der franzoͤſiſchen, wo einzelne Laute, ja ganze in der Schrift erſcheinende Sylben verſchluckt werden. Eben ſo kommt im Griechiſchen das iota subscriptum in der Rede nicht vor. Fuͤr die Schrift aber iſt dieß etwas Poſitives. Es wird Niemand ſagen koͤnnen, daß, wenn wir die ganze kritiſche Ope- ration als Ergaͤnzung eines hiſtoriſchen Factums anſehen, das poſitiv in der Schrift Gegebene gleichguͤltig waͤre, ſondern gerade die Loͤſung der kritiſchen Aufgabe fordert oft in den einfachen Faͤllen am meiſten die Kenntniß jenes Poſitiven. Denn wenn ich nicht weiß, daß dieß oder jenes geſchrieben worden, ſo fehlt mir die Leitung, aus dem, was ich als Urſpruͤngliches ſupponire, das Falſche zu erklaͤren, was ich oft nur aus den Schriftzuͤgen kann, zu denen dieſe poſitiven Elemente gehoͤren. Nun iſt es auch fuͤr die Geſchichte der Sprache bedeutend zu wiſſen, wie in ver- ſchiedenen Zeiten die Schrift ſich zur Sprache verhalte. Die Schrift Hermeneutik u. Kritik. 19

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/313>, abgerufen am 22.12.2024.