hat ihre eigene Geschichte. Es gehen Veränderungen in ihr vor unabhängig von den Veränderungen in der Rede. Aber jene Veränderungen sind doch wesentliche Momente in der Totalität der Sprachgeschichte. Von diesem Standpunkte aus erscheint die urkundliche Kritik in ihrem ganzen Umfange.
Stellen wir die philologische Aufgabe so, die Geschichte der Sprache und Schrift genau zu erforschen, so ist alles zu verglei- chen, was von Schriften geblieben ist. Das ist aber die Auf- gabe der Diplomatik, wovon die Paläographie nur ein Theil ist. Dabei ist der Inhalt der Schrift ganz gleichgültig. Jene Aufgabe besteht auch für sich. Die Auflösung der kritischen Auf- gabe durch Vergleichung mehrerer Abschriften ist nur eine Anwen- dung davon.
Gehen wir zu unsrer kritischen Aufgabe zurück, so sind die Fälle, welche im Lesen einer alten Schrift entstehen können, sehr verschiedener Art. Die einfachsten sind die, wenn die Aufgabe durch das zu lösen ist, wodurch sie entsteht. Entsteht z. B. die Aufgabe durch einen grammatischen Fehler, so löse ich sie auch durch die Grammatik. Bezieht sich dagegen die Aufgabe auf eine Wendung, einen Ausdruck, der sonst nicht bei einem Schrift- steller vorkommt, so muß er durch eine fremdartige Analogie entstanden sein, und der einfachste Fall ist dann der, wenn sich die Aufgabe eben durch die Analogie löst. Diese aber muß ich kennen, sowol die allgemeine als die spezielle des besonderen Schriftstellers. Denkt man sich aber, daß Jemand, der in einer Abschrift Fehler gefunden, so verfahren ist, daß er das Ganze ausgedrückt hat, wie ihm der Sinn vorkam, oder wie es ihm als Minimum von Differenz erschien, so kann so viel Fremdes hereingekommen sein, daß mit Sicherheit gar keine Analogie über die Sprachweise des Schriftstellers aufgestellt werden kann. Da ergiebt sich von Neuem, daß das unmittelbare hermeneutische Bedürfniß nicht das Maaß der kritischen Operation sein kann.
Fragt man nun, wie sich das urkundliche Verfahren zu dem divinatorischen verhält, so ist jenes die eigentliche Basis der Kritik,
hat ihre eigene Geſchichte. Es gehen Veraͤnderungen in ihr vor unabhaͤngig von den Veraͤnderungen in der Rede. Aber jene Veraͤnderungen ſind doch weſentliche Momente in der Totalitaͤt der Sprachgeſchichte. Von dieſem Standpunkte aus erſcheint die urkundliche Kritik in ihrem ganzen Umfange.
Stellen wir die philologiſche Aufgabe ſo, die Geſchichte der Sprache und Schrift genau zu erforſchen, ſo iſt alles zu verglei- chen, was von Schriften geblieben iſt. Das iſt aber die Auf- gabe der Diplomatik, wovon die Palaͤographie nur ein Theil iſt. Dabei iſt der Inhalt der Schrift ganz gleichguͤltig. Jene Aufgabe beſteht auch fuͤr ſich. Die Aufloͤſung der kritiſchen Auf- gabe durch Vergleichung mehrerer Abſchriften iſt nur eine Anwen- dung davon.
Gehen wir zu unſrer kritiſchen Aufgabe zuruͤck, ſo ſind die Faͤlle, welche im Leſen einer alten Schrift entſtehen koͤnnen, ſehr verſchiedener Art. Die einfachſten ſind die, wenn die Aufgabe durch das zu loͤſen iſt, wodurch ſie entſteht. Entſteht z. B. die Aufgabe durch einen grammatiſchen Fehler, ſo loͤſe ich ſie auch durch die Grammatik. Bezieht ſich dagegen die Aufgabe auf eine Wendung, einen Ausdruck, der ſonſt nicht bei einem Schrift- ſteller vorkommt, ſo muß er durch eine fremdartige Analogie entſtanden ſein, und der einfachſte Fall iſt dann der, wenn ſich die Aufgabe eben durch die Analogie loͤſt. Dieſe aber muß ich kennen, ſowol die allgemeine als die ſpezielle des beſonderen Schriftſtellers. Denkt man ſich aber, daß Jemand, der in einer Abſchrift Fehler gefunden, ſo verfahren iſt, daß er das Ganze ausgedruͤckt hat, wie ihm der Sinn vorkam, oder wie es ihm als Minimum von Differenz erſchien, ſo kann ſo viel Fremdes hereingekommen ſein, daß mit Sicherheit gar keine Analogie uͤber die Sprachweiſe des Schriftſtellers aufgeſtellt werden kann. Da ergiebt ſich von Neuem, daß das unmittelbare hermeneutiſche Beduͤrfniß nicht das Maaß der kritiſchen Operation ſein kann.
Fragt man nun, wie ſich das urkundliche Verfahren zu dem divinatoriſchen verhaͤlt, ſo iſt jenes die eigentliche Baſis der Kritik,
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hat ihre eigene Geſchichte. Es gehen Veraͤnderungen in ihr vor
unabhaͤngig von den Veraͤnderungen in der Rede. Aber jene
Veraͤnderungen ſind doch weſentliche Momente in der Totalitaͤt
der Sprachgeſchichte. Von dieſem Standpunkte aus erſcheint die
urkundliche Kritik in ihrem ganzen Umfange.
Stellen wir die philologiſche Aufgabe ſo, die Geſchichte der
Sprache und Schrift genau zu erforſchen, ſo iſt alles zu verglei-
chen, was von Schriften geblieben iſt. Das iſt aber die Auf-
gabe der Diplomatik, wovon die Palaͤographie nur ein Theil
iſt. Dabei iſt der Inhalt der Schrift ganz gleichguͤltig. Jene
Aufgabe beſteht auch fuͤr ſich. Die Aufloͤſung der kritiſchen Auf-
gabe durch Vergleichung mehrerer Abſchriften iſt nur eine Anwen-
dung davon.
Gehen wir zu unſrer kritiſchen Aufgabe zuruͤck, ſo ſind die
Faͤlle, welche im Leſen einer alten Schrift entſtehen koͤnnen, ſehr
verſchiedener Art. Die einfachſten ſind die, wenn die Aufgabe
durch das zu loͤſen iſt, wodurch ſie entſteht. Entſteht z. B. die
Aufgabe durch einen grammatiſchen Fehler, ſo loͤſe ich ſie auch
durch die Grammatik. Bezieht ſich dagegen die Aufgabe auf eine
Wendung, einen Ausdruck, der ſonſt nicht bei einem Schrift-
ſteller vorkommt, ſo muß er durch eine fremdartige Analogie
entſtanden ſein, und der einfachſte Fall iſt dann der, wenn ſich
die Aufgabe eben durch die Analogie loͤſt. Dieſe aber muß ich
kennen, ſowol die allgemeine als die ſpezielle des beſonderen
Schriftſtellers. Denkt man ſich aber, daß Jemand, der in einer
Abſchrift Fehler gefunden, ſo verfahren iſt, daß er das Ganze
ausgedruͤckt hat, wie ihm der Sinn vorkam, oder wie es ihm
als Minimum von Differenz erſchien, ſo kann ſo viel Fremdes
hereingekommen ſein, daß mit Sicherheit gar keine Analogie uͤber
die Sprachweiſe des Schriftſtellers aufgeſtellt werden kann. Da
ergiebt ſich von Neuem, daß das unmittelbare hermeneutiſche
Beduͤrfniß nicht das Maaß der kritiſchen Operation ſein kann.
Fragt man nun, wie ſich das urkundliche Verfahren zu dem
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/314>, abgerufen am 22.12.2024.
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