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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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Seelenlebens eine sittliche oder religiöse Haltung und Richtung
wahrzunehmen ist, so ist vorauszusezen, daß der visionäre Apparat
aus religiösen Eingebungen hervorgegan sei, also prophetische Digni-
tät habe. Die Visionen lassen sich als Steigerungen des geistigen reli-
giösen Lebens ansehen. Das wollen wir denn gelten lassen, und nur
als Thatsache erwähnen, wie sachkundige Ausleger in der Beschäf-
tigung mit dem Buche dahin gebracht sind, Gegenstände, die zur
Zeit Neros oder Galbas vorgegangen sind, darin vorhergesagt zu
finden. Allein, wie die Sache liegt, ist an keine rechte Lösung
zu denken. Der Eine sagt, wenn ein Gegenstand auf jene Weise
beschrieben wird, wie in den Visionen geschieht, so müsse er selbst
schon geschichtlich sein. Der Andere aber folgert eben aus der
genaueren Beschreibung die prophetische Dignität des Buches.
Diese Verschiedenheit hat nothwendig Einfluß auf die Erklärung,
aber eben deßhalb kann auch keine Erklärung allgemeine Gültig-
keit haben. So lange der Proceß zwischen jenen entgegengesezten
Ansichten noch nicht entschieden ist, ist auch an keine richtige
Voraussezung in Ansehung des Buches zu denken. Geben wir
auch die Möglichkeit im Allgemeinen zu, daß durch höhere Ein-
wirkung Visionen von zukünftigen Ereignissen zu Stande kom-
men können, so muß doch, wenn man ihnen in bestimmten Fäl-
len glauben soll, ein bestimmter Zweck erkennbar sein. So nahe
Voraussezungen, wie die wären, wenn die apokalyptischen sich
auf die Römische Kaisergeschichte bezögen, wären für Niemand
gewesen, weil das Buch in dieser Zeit noch gar keine Verbrei-
tung hatte. Dazu kommt, daß die Beziehungen so wenig klar
waren, daß auch die, denen das Buch bekannt war, wenn die
Begebenheiten eintrafen, nicht erkennen konnten, daß sie vorher-
gesagt waren. Daher können wir, wenn auch das Princip selbst,
doch keine rechte Anwendung desselben zugeben. Wie steht es
nun um die Klarheit, mit der bestimmte Begebenheiten nachge-
wiesen werden? Das Buch enthält dafür Indikationen in Zah-
len. Aber wo soll man zu zählen anfangen? Welche Kenntniß
soll man bei dem Seher selbst davon voraussezen? Oder soll

Seelenlebens eine ſittliche oder religioͤſe Haltung und Richtung
wahrzunehmen iſt, ſo iſt vorauszuſezen, daß der viſionaͤre Apparat
aus religioͤſen Eingebungen hervorgegan ſei, alſo prophetiſche Digni-
taͤt habe. Die Viſionen laſſen ſich als Steigerungen des geiſtigen reli-
gioͤſen Lebens anſehen. Das wollen wir denn gelten laſſen, und nur
als Thatſache erwaͤhnen, wie ſachkundige Ausleger in der Beſchaͤf-
tigung mit dem Buche dahin gebracht ſind, Gegenſtaͤnde, die zur
Zeit Neros oder Galbas vorgegangen ſind, darin vorhergeſagt zu
finden. Allein, wie die Sache liegt, iſt an keine rechte Loͤſung
zu denken. Der Eine ſagt, wenn ein Gegenſtand auf jene Weiſe
beſchrieben wird, wie in den Viſionen geſchieht, ſo muͤſſe er ſelbſt
ſchon geſchichtlich ſein. Der Andere aber folgert eben aus der
genaueren Beſchreibung die prophetiſche Dignitaͤt des Buches.
Dieſe Verſchiedenheit hat nothwendig Einfluß auf die Erklaͤrung,
aber eben deßhalb kann auch keine Erklaͤrung allgemeine Guͤltig-
keit haben. So lange der Proceß zwiſchen jenen entgegengeſezten
Anſichten noch nicht entſchieden iſt, iſt auch an keine richtige
Vorausſezung in Anſehung des Buches zu denken. Geben wir
auch die Moͤglichkeit im Allgemeinen zu, daß durch hoͤhere Ein-
wirkung Viſionen von zukuͤnftigen Ereigniſſen zu Stande kom-
men koͤnnen, ſo muß doch, wenn man ihnen in beſtimmten Faͤl-
len glauben ſoll, ein beſtimmter Zweck erkennbar ſein. So nahe
Vorausſezungen, wie die waͤren, wenn die apokalyptiſchen ſich
auf die Roͤmiſche Kaiſergeſchichte bezoͤgen, waͤren fuͤr Niemand
geweſen, weil das Buch in dieſer Zeit noch gar keine Verbrei-
tung hatte. Dazu kommt, daß die Beziehungen ſo wenig klar
waren, daß auch die, denen das Buch bekannt war, wenn die
Begebenheiten eintrafen, nicht erkennen konnten, daß ſie vorher-
geſagt waren. Daher koͤnnen wir, wenn auch das Princip ſelbſt,
doch keine rechte Anwendung deſſelben zugeben. Wie ſteht es
nun um die Klarheit, mit der beſtimmte Begebenheiten nachge-
wieſen werden? Das Buch enthaͤlt dafuͤr Indikationen in Zah-
len. Aber wo ſoll man zu zaͤhlen anfangen? Welche Kenntniß
ſoll man bei dem Seher ſelbſt davon vorausſezen? Oder ſoll

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[252/0276] Seelenlebens eine ſittliche oder religioͤſe Haltung und Richtung wahrzunehmen iſt, ſo iſt vorauszuſezen, daß der viſionaͤre Apparat aus religioͤſen Eingebungen hervorgegan ſei, alſo prophetiſche Digni- taͤt habe. Die Viſionen laſſen ſich als Steigerungen des geiſtigen reli- gioͤſen Lebens anſehen. Das wollen wir denn gelten laſſen, und nur als Thatſache erwaͤhnen, wie ſachkundige Ausleger in der Beſchaͤf- tigung mit dem Buche dahin gebracht ſind, Gegenſtaͤnde, die zur Zeit Neros oder Galbas vorgegangen ſind, darin vorhergeſagt zu finden. Allein, wie die Sache liegt, iſt an keine rechte Loͤſung zu denken. Der Eine ſagt, wenn ein Gegenſtand auf jene Weiſe beſchrieben wird, wie in den Viſionen geſchieht, ſo muͤſſe er ſelbſt ſchon geſchichtlich ſein. Der Andere aber folgert eben aus der genaueren Beſchreibung die prophetiſche Dignitaͤt des Buches. Dieſe Verſchiedenheit hat nothwendig Einfluß auf die Erklaͤrung, aber eben deßhalb kann auch keine Erklaͤrung allgemeine Guͤltig- keit haben. So lange der Proceß zwiſchen jenen entgegengeſezten Anſichten noch nicht entſchieden iſt, iſt auch an keine richtige Vorausſezung in Anſehung des Buches zu denken. Geben wir auch die Moͤglichkeit im Allgemeinen zu, daß durch hoͤhere Ein- wirkung Viſionen von zukuͤnftigen Ereigniſſen zu Stande kom- men koͤnnen, ſo muß doch, wenn man ihnen in beſtimmten Faͤl- len glauben ſoll, ein beſtimmter Zweck erkennbar ſein. So nahe Vorausſezungen, wie die waͤren, wenn die apokalyptiſchen ſich auf die Roͤmiſche Kaiſergeſchichte bezoͤgen, waͤren fuͤr Niemand geweſen, weil das Buch in dieſer Zeit noch gar keine Verbrei- tung hatte. Dazu kommt, daß die Beziehungen ſo wenig klar waren, daß auch die, denen das Buch bekannt war, wenn die Begebenheiten eintrafen, nicht erkennen konnten, daß ſie vorher- geſagt waren. Daher koͤnnen wir, wenn auch das Princip ſelbſt, doch keine rechte Anwendung deſſelben zugeben. Wie ſteht es nun um die Klarheit, mit der beſtimmte Begebenheiten nachge- wieſen werden? Das Buch enthaͤlt dafuͤr Indikationen in Zah- len. Aber wo ſoll man zu zaͤhlen anfangen? Welche Kenntniß ſoll man bei dem Seher ſelbſt davon vorausſezen? Oder ſoll

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/276>, abgerufen am 23.12.2024.