man sagen, es sei nicht nothwendig, daß er selbst verstanden, was er vorhersagt? Dann aber kommen wir in ein Gebiet, wo alle Anwendung von Regeln aufhört. So ist die Erklärung von je- nen Indikationen aus rein willkührlich, weil wir die Notizen, die der Verfasser im Sinne hatte, nicht kennen. Wir gehen von den unsrigen aus, er von den seinigen, und so haben wir keinen festen Punkt, wo wir die Erklärung anschließen könnten. -- So bleibt am Ende für die hermeneutische Aufgabe nur übrig, das Gesehene aus der Beschreibung richtig zu erkennen. Aber diese Aufgabe wird dadurch sehr beschränkt, daß das Zusammen- sehen nicht überall dargethan und die Einheit des Buches in die- ser Hinsicht nicht dargestellt werden kann. -- Man mag anfan- gen wo man will, man findet unbestimmte Punkte und kommt nicht zu Stande.
Ist dieß die wahre Lage der Sache, so entsteht eine andere Frage, nemlich, was für eine Bestimmung das Buch im N. T. hat, wie es sich rechtfertigen läßt, daß es in den neutest. Kanon gekommen? Sieht man diesen nicht historisch an, sondern als ein Werk des göttlichen Geistes, so ist keine andere Antwort, als, damit im N. T. ein beständiges Räthsel sei, ist das Buch in den Kanon gekommen. Wozu das aber? Betrachten wir die Sache historisch, so kann man sagen, die Aufnahme des Buches in den Kanon hänge mit gewissen Ansichten zusammen, die bei seiner Bildung in den Gemeinden herrschten, dann aber beruhe es auf dem Streben, eine Analogie zwischen dem N. und A. T. hervorzubringen, also auch im N. T. ein prophetisches Buch zu haben.
Betrachten wir das ganze Gebiet der neutest. Hermeneutik, wie viel da noch zu thun ist und wie wenig Aussicht bei diesem Buche, über den oben bezeichneten engen Raum weiter hinaus zu kommen, so ist's nur zu bedauern, daß so viel Zeit, Anstren- gung und Scharfsinn noch neuerlich darauf verschwendet ist. Doch liegt in den neueren Arbeiten ein nützliches Gegengewicht
man ſagen, es ſei nicht nothwendig, daß er ſelbſt verſtanden, was er vorherſagt? Dann aber kommen wir in ein Gebiet, wo alle Anwendung von Regeln aufhoͤrt. So iſt die Erklaͤrung von je- nen Indikationen aus rein willkuͤhrlich, weil wir die Notizen, die der Verfaſſer im Sinne hatte, nicht kennen. Wir gehen von den unſrigen aus, er von den ſeinigen, und ſo haben wir keinen feſten Punkt, wo wir die Erklaͤrung anſchließen koͤnnten. — So bleibt am Ende fuͤr die hermeneutiſche Aufgabe nur uͤbrig, das Geſehene aus der Beſchreibung richtig zu erkennen. Aber dieſe Aufgabe wird dadurch ſehr beſchraͤnkt, daß das Zuſammen- ſehen nicht uͤberall dargethan und die Einheit des Buches in die- ſer Hinſicht nicht dargeſtellt werden kann. — Man mag anfan- gen wo man will, man findet unbeſtimmte Punkte und kommt nicht zu Stande.
Iſt dieß die wahre Lage der Sache, ſo entſteht eine andere Frage, nemlich, was fuͤr eine Beſtimmung das Buch im N. T. hat, wie es ſich rechtfertigen laͤßt, daß es in den neuteſt. Kanon gekommen? Sieht man dieſen nicht hiſtoriſch an, ſondern als ein Werk des goͤttlichen Geiſtes, ſo iſt keine andere Antwort, als, damit im N. T. ein beſtaͤndiges Raͤthſel ſei, iſt das Buch in den Kanon gekommen. Wozu das aber? Betrachten wir die Sache hiſtoriſch, ſo kann man ſagen, die Aufnahme des Buches in den Kanon haͤnge mit gewiſſen Anſichten zuſammen, die bei ſeiner Bildung in den Gemeinden herrſchten, dann aber beruhe es auf dem Streben, eine Analogie zwiſchen dem N. und A. T. hervorzubringen, alſo auch im N. T. ein prophetiſches Buch zu haben.
Betrachten wir das ganze Gebiet der neuteſt. Hermeneutik, wie viel da noch zu thun iſt und wie wenig Ausſicht bei dieſem Buche, uͤber den oben bezeichneten engen Raum weiter hinaus zu kommen, ſo iſt's nur zu bedauern, daß ſo viel Zeit, Anſtren- gung und Scharfſinn noch neuerlich darauf verſchwendet iſt. Doch liegt in den neueren Arbeiten ein nuͤtzliches Gegengewicht
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man ſagen, es ſei nicht nothwendig, daß er ſelbſt verſtanden, was
er vorherſagt? Dann aber kommen wir in ein Gebiet, wo alle
Anwendung von Regeln aufhoͤrt. So iſt die Erklaͤrung von je-
nen Indikationen aus rein willkuͤhrlich, weil wir die Notizen,
die der Verfaſſer im Sinne hatte, nicht kennen. Wir gehen von
den unſrigen aus, er von den ſeinigen, und ſo haben wir keinen
feſten Punkt, wo wir die Erklaͤrung anſchließen koͤnnten. —
So bleibt am Ende fuͤr die hermeneutiſche Aufgabe nur uͤbrig,
das Geſehene aus der Beſchreibung richtig zu erkennen. Aber
dieſe Aufgabe wird dadurch ſehr beſchraͤnkt, daß das Zuſammen-
ſehen nicht uͤberall dargethan und die Einheit des Buches in die-
ſer Hinſicht nicht dargeſtellt werden kann. — Man mag anfan-
gen wo man will, man findet unbeſtimmte Punkte und kommt
nicht zu Stande.
Iſt dieß die wahre Lage der Sache, ſo entſteht eine andere
Frage, nemlich, was fuͤr eine Beſtimmung das Buch im N. T.
hat, wie es ſich rechtfertigen laͤßt, daß es in den neuteſt. Kanon
gekommen? Sieht man dieſen nicht hiſtoriſch an, ſondern als
ein Werk des goͤttlichen Geiſtes, ſo iſt keine andere Antwort, als,
damit im N. T. ein beſtaͤndiges Raͤthſel ſei, iſt das Buch in
den Kanon gekommen. Wozu das aber? Betrachten wir die
Sache hiſtoriſch, ſo kann man ſagen, die Aufnahme des Buches
in den Kanon haͤnge mit gewiſſen Anſichten zuſammen, die bei
ſeiner Bildung in den Gemeinden herrſchten, dann aber beruhe
es auf dem Streben, eine Analogie zwiſchen dem N. und A. T.
hervorzubringen, alſo auch im N. T. ein prophetiſches Buch
zu haben.
Betrachten wir das ganze Gebiet der neuteſt. Hermeneutik,
wie viel da noch zu thun iſt und wie wenig Ausſicht bei dieſem
Buche, uͤber den oben bezeichneten engen Raum weiter hinaus
zu kommen, ſo iſt's nur zu bedauern, daß ſo viel Zeit, Anſtren-
gung und Scharfſinn noch neuerlich darauf verſchwendet iſt.
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/277>, abgerufen am 23.12.2024.
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