Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

sehen? Wir finden bestimmte Beschreibungen von Einzelheiten, die
Gegenstände sind genau angegeben. Zugleich aber finden wir im
Einzelnen eine gewisse doppelte Scenerie, Gegenstände darin, welche
eine andere Art von Realität haben als die übrigen. Wenn erzählt
wird, etwas sei gesehen worden und der Sehende habe einen Anderen,
der nicht außerhalb des Gesehenen bei ihm war, gefragt, was
Einzelnes für eine Bewandniß habe, so hat eben dieß mehr Rea-
lität für den Seher, als jene unbestimmte Relation mit ihm.
Betrachtet man den Ursprung und die Beschaffenheit des Gesehe-
nen, so ist, wenn die Gegenstände sollen wirklich äußerlich ge-
sehen worden sein, oft nachzuweisen, daß es für das Auge nicht
in der Einheit des Bildes, wenigstens nicht in der Bestimmtheit
habe dargestellt werden können, mit der es dargestellt wird. Es
wird also ein inneres Sehen angenommen werden müssen. Da
kommen wir aber auf ein Gebiet, wo es uns an hinreichender
Erfahrung fehlt, um Geseze erkennen zu können. Also sind nur
die Gestalten und die Verhältnisse, die der Verfasser beschreibt,
als sein wirklich Gesehenes aufzufassen. Wenn die Klarheit des
Gesehenen so weit gehen sollte, daß man das Ganze unter der
Form eines Bildes zur Anschauung bringen könnte, so wäre die
unmittelbare hermeneutische Aufgabe gelöst. Aber was hätte man
dann? Um zum vollen Verstehen zu gelangen, müßte man über
die hermeneutische Aufgabe in dieser Beziehung hinausgehen.
Nun ist aber das Gesehene nicht der ganze Inhalt, sondern es
kommen auch Reden vor. Hier wäre ein eigentliches Gebiet
der Hermeneutik. Die Schrift ist an die Asiatischen Gemeinden
gerichtet, dieß ist ihre eigentliche Tendenz im ersten Abschnitt;
da sind die Bilder nur die Dekorationen. In dem anderen Theile
ist das Gesehene die Hauptsache, und die Rede soll nur einzelne
Indikationen einstreuen über die Bedeutung des Gesehenen.
Könnte man nach diesen Indikationen allem Einzelnen eine be-
stimmte Bedeutung beilegen, und das stimmte zusammen, so wäre
dieß das vollkommene Verstehen in Beziehung auf die Verbin-
dung des Gesprochenen und Gesehenen, es mag beides ein äuße-

ſehen? Wir finden beſtimmte Beſchreibungen von Einzelheiten, die
Gegenſtaͤnde ſind genau angegeben. Zugleich aber finden wir im
Einzelnen eine gewiſſe doppelte Scenerie, Gegenſtaͤnde darin, welche
eine andere Art von Realitaͤt haben als die uͤbrigen. Wenn erzaͤhlt
wird, etwas ſei geſehen worden und der Sehende habe einen Anderen,
der nicht außerhalb des Geſehenen bei ihm war, gefragt, was
Einzelnes fuͤr eine Bewandniß habe, ſo hat eben dieß mehr Rea-
litaͤt fuͤr den Seher, als jene unbeſtimmte Relation mit ihm.
Betrachtet man den Urſprung und die Beſchaffenheit des Geſehe-
nen, ſo iſt, wenn die Gegenſtaͤnde ſollen wirklich aͤußerlich ge-
ſehen worden ſein, oft nachzuweiſen, daß es fuͤr das Auge nicht
in der Einheit des Bildes, wenigſtens nicht in der Beſtimmtheit
habe dargeſtellt werden koͤnnen, mit der es dargeſtellt wird. Es
wird alſo ein inneres Sehen angenommen werden muͤſſen. Da
kommen wir aber auf ein Gebiet, wo es uns an hinreichender
Erfahrung fehlt, um Geſeze erkennen zu koͤnnen. Alſo ſind nur
die Geſtalten und die Verhaͤltniſſe, die der Verfaſſer beſchreibt,
als ſein wirklich Geſehenes aufzufaſſen. Wenn die Klarheit des
Geſehenen ſo weit gehen ſollte, daß man das Ganze unter der
Form eines Bildes zur Anſchauung bringen koͤnnte, ſo waͤre die
unmittelbare hermeneutiſche Aufgabe geloͤſt. Aber was haͤtte man
dann? Um zum vollen Verſtehen zu gelangen, muͤßte man uͤber
die hermeneutiſche Aufgabe in dieſer Beziehung hinausgehen.
Nun iſt aber das Geſehene nicht der ganze Inhalt, ſondern es
kommen auch Reden vor. Hier waͤre ein eigentliches Gebiet
der Hermeneutik. Die Schrift iſt an die Aſiatiſchen Gemeinden
gerichtet, dieß iſt ihre eigentliche Tendenz im erſten Abſchnitt;
da ſind die Bilder nur die Dekorationen. In dem anderen Theile
iſt das Geſehene die Hauptſache, und die Rede ſoll nur einzelne
Indikationen einſtreuen uͤber die Bedeutung des Geſehenen.
Koͤnnte man nach dieſen Indikationen allem Einzelnen eine be-
ſtimmte Bedeutung beilegen, und das ſtimmte zuſammen, ſo waͤre
dieß das vollkommene Verſtehen in Beziehung auf die Verbin-
dung des Geſprochenen und Geſehenen, es mag beides ein aͤuße-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0274" n="250"/>
&#x017F;ehen? Wir finden be&#x017F;timmte Be&#x017F;chreibungen von Einzelheiten, die<lb/>
Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde &#x017F;ind genau angegeben. Zugleich aber finden wir im<lb/>
Einzelnen eine gewi&#x017F;&#x017F;e doppelte Scenerie, Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde darin, welche<lb/>
eine andere Art von Realita&#x0364;t haben als die u&#x0364;brigen. Wenn erza&#x0364;hlt<lb/>
wird, etwas &#x017F;ei ge&#x017F;ehen worden und der Sehende habe einen Anderen,<lb/>
der nicht außerhalb des Ge&#x017F;ehenen bei ihm war, gefragt, was<lb/>
Einzelnes fu&#x0364;r eine Bewandniß habe, &#x017F;o hat eben dieß mehr Rea-<lb/>
lita&#x0364;t fu&#x0364;r den Seher, als jene unbe&#x017F;timmte Relation mit ihm.<lb/>
Betrachtet man den Ur&#x017F;prung und die Be&#x017F;chaffenheit des Ge&#x017F;ehe-<lb/>
nen, &#x017F;o i&#x017F;t, wenn die Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde &#x017F;ollen wirklich a&#x0364;ußerlich ge-<lb/>
&#x017F;ehen worden &#x017F;ein, oft nachzuwei&#x017F;en, daß es fu&#x0364;r das Auge nicht<lb/>
in der Einheit des Bildes, wenig&#x017F;tens nicht in der Be&#x017F;timmtheit<lb/>
habe darge&#x017F;tellt werden ko&#x0364;nnen, mit der es darge&#x017F;tellt wird. Es<lb/>
wird al&#x017F;o ein inneres Sehen angenommen werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en. Da<lb/>
kommen wir aber auf ein Gebiet, wo es uns an hinreichender<lb/>
Erfahrung fehlt, um Ge&#x017F;eze erkennen zu ko&#x0364;nnen. Al&#x017F;o &#x017F;ind nur<lb/>
die Ge&#x017F;talten und die Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e, die der Verfa&#x017F;&#x017F;er be&#x017F;chreibt,<lb/>
als &#x017F;ein wirklich Ge&#x017F;ehenes aufzufa&#x017F;&#x017F;en. Wenn die Klarheit des<lb/>
Ge&#x017F;ehenen &#x017F;o weit gehen &#x017F;ollte, daß man das Ganze unter der<lb/>
Form eines Bildes zur An&#x017F;chauung bringen ko&#x0364;nnte, &#x017F;o wa&#x0364;re die<lb/>
unmittelbare hermeneuti&#x017F;che Aufgabe gelo&#x0364;&#x017F;t. Aber was ha&#x0364;tte man<lb/>
dann? Um zum vollen Ver&#x017F;tehen zu gelangen, mu&#x0364;ßte man u&#x0364;ber<lb/>
die hermeneuti&#x017F;che Aufgabe in die&#x017F;er Beziehung hinausgehen.<lb/>
Nun i&#x017F;t aber das Ge&#x017F;ehene nicht der ganze Inhalt, &#x017F;ondern es<lb/>
kommen auch Reden vor. Hier wa&#x0364;re ein eigentliches Gebiet<lb/>
der Hermeneutik. Die Schrift i&#x017F;t an die A&#x017F;iati&#x017F;chen Gemeinden<lb/>
gerichtet, dieß i&#x017F;t ihre eigentliche Tendenz im er&#x017F;ten Ab&#x017F;chnitt;<lb/>
da &#x017F;ind die Bilder nur die Dekorationen. In dem anderen Theile<lb/>
i&#x017F;t das Ge&#x017F;ehene die Haupt&#x017F;ache, und die Rede &#x017F;oll nur einzelne<lb/>
Indikationen ein&#x017F;treuen u&#x0364;ber die Bedeutung des Ge&#x017F;ehenen.<lb/>
Ko&#x0364;nnte man nach die&#x017F;en Indikationen allem Einzelnen eine be-<lb/>
&#x017F;timmte Bedeutung beilegen, und das &#x017F;timmte zu&#x017F;ammen, &#x017F;o wa&#x0364;re<lb/>
dieß das vollkommene Ver&#x017F;tehen in Beziehung auf die Verbin-<lb/>
dung des Ge&#x017F;prochenen und Ge&#x017F;ehenen, es mag beides ein a&#x0364;uße-
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[250/0274] ſehen? Wir finden beſtimmte Beſchreibungen von Einzelheiten, die Gegenſtaͤnde ſind genau angegeben. Zugleich aber finden wir im Einzelnen eine gewiſſe doppelte Scenerie, Gegenſtaͤnde darin, welche eine andere Art von Realitaͤt haben als die uͤbrigen. Wenn erzaͤhlt wird, etwas ſei geſehen worden und der Sehende habe einen Anderen, der nicht außerhalb des Geſehenen bei ihm war, gefragt, was Einzelnes fuͤr eine Bewandniß habe, ſo hat eben dieß mehr Rea- litaͤt fuͤr den Seher, als jene unbeſtimmte Relation mit ihm. Betrachtet man den Urſprung und die Beſchaffenheit des Geſehe- nen, ſo iſt, wenn die Gegenſtaͤnde ſollen wirklich aͤußerlich ge- ſehen worden ſein, oft nachzuweiſen, daß es fuͤr das Auge nicht in der Einheit des Bildes, wenigſtens nicht in der Beſtimmtheit habe dargeſtellt werden koͤnnen, mit der es dargeſtellt wird. Es wird alſo ein inneres Sehen angenommen werden muͤſſen. Da kommen wir aber auf ein Gebiet, wo es uns an hinreichender Erfahrung fehlt, um Geſeze erkennen zu koͤnnen. Alſo ſind nur die Geſtalten und die Verhaͤltniſſe, die der Verfaſſer beſchreibt, als ſein wirklich Geſehenes aufzufaſſen. Wenn die Klarheit des Geſehenen ſo weit gehen ſollte, daß man das Ganze unter der Form eines Bildes zur Anſchauung bringen koͤnnte, ſo waͤre die unmittelbare hermeneutiſche Aufgabe geloͤſt. Aber was haͤtte man dann? Um zum vollen Verſtehen zu gelangen, muͤßte man uͤber die hermeneutiſche Aufgabe in dieſer Beziehung hinausgehen. Nun iſt aber das Geſehene nicht der ganze Inhalt, ſondern es kommen auch Reden vor. Hier waͤre ein eigentliches Gebiet der Hermeneutik. Die Schrift iſt an die Aſiatiſchen Gemeinden gerichtet, dieß iſt ihre eigentliche Tendenz im erſten Abſchnitt; da ſind die Bilder nur die Dekorationen. In dem anderen Theile iſt das Geſehene die Hauptſache, und die Rede ſoll nur einzelne Indikationen einſtreuen uͤber die Bedeutung des Geſehenen. Koͤnnte man nach dieſen Indikationen allem Einzelnen eine be- ſtimmte Bedeutung beilegen, und das ſtimmte zuſammen, ſo waͤre dieß das vollkommene Verſtehen in Beziehung auf die Verbin- dung des Geſprochenen und Geſehenen, es mag beides ein aͤuße-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/274
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/274>, abgerufen am 23.12.2024.