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Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863.

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Stellung des Menschen in der Natur.
Körperwelt in Raum und Zeit. Jene Widersprüche gehen daraus her¬
vor, daß wir die unvollkommene menschliche Beurtheilungsweise auf das
wahre Wesen der Dinge anzuwenden versuchen." Diese vortrefflich aus
gründlicher psychologischer Beobachtung, d. h. aus der Erfahrung ab¬
geleitete Lehre nannte Kant den "transscendentalen Idealis¬
mus
". Derselbe wurde nur von Fries richtig verstanden, schärfer aus¬
geführt und sicherer begründet. So lautet das Resultat für unsere ge¬
genwärtige Betrachtung, welches wir den hier unvermeidlich nur skiz¬
zenhaft vorgetragenen Lehren entlehnen: Allem Erscheinenden liegen
geistige Wesen zu Grunde, deren Existenz der Mensch aber nur in sich
selbst findet, deren freie unbeschränkte Natur er eben als Mensch, so
lange sein eigner Geist in dieser irdischen Gebundenheit existirt, nicht
begreifen, d. h. sich auf deutliche Begriffe zurückführen kann, für das
wissenschaftliche Begreifen bleibt er hier an die Auffassung in Raum
und Zeit gebunden.

Aber daneben wird uns noch ein anderes Verhältniß bei Behand¬
lung der hier vorliegenden Frage von durchgreifender Wichtigkeit. Un¬
ser Gebundensein an die Formen von Raum und Zeit und insbesondere
auch die Zeitlichkeit aller unserer Vorstellungen hat zur unmittelbaren
Folge eine Erscheinung, die uns eine auch nur sehr flüchtige Selbster¬
kenntniß als unumstößlichen Erfahrungssatz aufdrängt, daß nämlich
hier auf Erden immer augenblicklich nur ein Theil unseres ganzen gei¬
stigen Eigenthums, nur ein Theil der uns doch sämmtlich angehören¬
den Vorstellungen in unserem Bewußtsein gegenwärtig ist, daß unsere
Vorstellungen beständig wechseln, vor unserm Bewußtsein erscheinen,
wieder demselben sich entziehen, und nach einiger Zeit wieder hervor¬
treten. Deshalb wird die erste Grundlage für eine jede erfahrungsmä¬
ßig festzustellende Psychologie eine genaue Erfahrung des Verhältnisses
in welchem unsere Vorstellungen d. h. unser ganzes geistiges Wesen
und Leben zu unserem Bewußtsein steht. Die Erforschung und Aufklä¬
rung dieses Verhältnisses vollendet und sichert erst die großen Kanti¬
schen Endeckungen und dafür hat sich eben Fries das unsterbliche Ver¬

Stellung des Menſchen in der Natur.
Körperwelt in Raum und Zeit. Jene Widerſprüche gehen daraus her¬
vor, daß wir die unvollkommene menſchliche Beurtheilungsweiſe auf das
wahre Weſen der Dinge anzuwenden verſuchen.“ Dieſe vortrefflich aus
gründlicher pſychologiſcher Beobachtung, d. h. aus der Erfahrung ab¬
geleitete Lehre nannte Kant den „transſcendentalen Idealis¬
mus
“. Derſelbe wurde nur von Fries richtig verſtanden, ſchärfer aus¬
geführt und ſicherer begründet. So lautet das Reſultat für unſere ge¬
genwärtige Betrachtung, welches wir den hier unvermeidlich nur ſkiz¬
zenhaft vorgetragenen Lehren entlehnen: Allem Erſcheinenden liegen
geiſtige Weſen zu Grunde, deren Exiſtenz der Menſch aber nur in ſich
ſelbſt findet, deren freie unbeſchränkte Natur er eben als Menſch, ſo
lange ſein eigner Geiſt in dieſer irdiſchen Gebundenheit exiſtirt, nicht
begreifen, d. h. ſich auf deutliche Begriffe zurückführen kann, für das
wiſſenſchaftliche Begreifen bleibt er hier an die Auffaſſung in Raum
und Zeit gebunden.

Aber daneben wird uns noch ein anderes Verhältniß bei Behand¬
lung der hier vorliegenden Frage von durchgreifender Wichtigkeit. Un¬
ſer Gebundenſein an die Formen von Raum und Zeit und insbeſondere
auch die Zeitlichkeit aller unſerer Vorſtellungen hat zur unmittelbaren
Folge eine Erſcheinung, die uns eine auch nur ſehr flüchtige Selbſter¬
kenntniß als unumſtößlichen Erfahrungsſatz aufdrängt, daß nämlich
hier auf Erden immer augenblicklich nur ein Theil unſeres ganzen gei¬
ſtigen Eigenthums, nur ein Theil der uns doch ſämmtlich angehören¬
den Vorſtellungen in unſerem Bewußtſein gegenwärtig iſt, daß unſere
Vorſtellungen beſtändig wechſeln, vor unſerm Bewußtſein erſcheinen,
wieder demſelben ſich entziehen, und nach einiger Zeit wieder hervor¬
treten. Deshalb wird die erſte Grundlage für eine jede erfahrungsmä¬
ßig feſtzuſtellende Pſychologie eine genaue Erfahrung des Verhältniſſes
in welchem unſere Vorſtellungen d. h. unſer ganzes geiſtiges Weſen
und Leben zu unſerem Bewußtſein ſteht. Die Erforſchung und Aufklä¬
rung dieſes Verhältniſſes vollendet und ſichert erſt die großen Kanti¬
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[59/0069] Stellung des Menſchen in der Natur. Körperwelt in Raum und Zeit. Jene Widerſprüche gehen daraus her¬ vor, daß wir die unvollkommene menſchliche Beurtheilungsweiſe auf das wahre Weſen der Dinge anzuwenden verſuchen.“ Dieſe vortrefflich aus gründlicher pſychologiſcher Beobachtung, d. h. aus der Erfahrung ab¬ geleitete Lehre nannte Kant den „transſcendentalen Idealis¬ mus“. Derſelbe wurde nur von Fries richtig verſtanden, ſchärfer aus¬ geführt und ſicherer begründet. So lautet das Reſultat für unſere ge¬ genwärtige Betrachtung, welches wir den hier unvermeidlich nur ſkiz¬ zenhaft vorgetragenen Lehren entlehnen: Allem Erſcheinenden liegen geiſtige Weſen zu Grunde, deren Exiſtenz der Menſch aber nur in ſich ſelbſt findet, deren freie unbeſchränkte Natur er eben als Menſch, ſo lange ſein eigner Geiſt in dieſer irdiſchen Gebundenheit exiſtirt, nicht begreifen, d. h. ſich auf deutliche Begriffe zurückführen kann, für das wiſſenſchaftliche Begreifen bleibt er hier an die Auffaſſung in Raum und Zeit gebunden. Aber daneben wird uns noch ein anderes Verhältniß bei Behand¬ lung der hier vorliegenden Frage von durchgreifender Wichtigkeit. Un¬ ſer Gebundenſein an die Formen von Raum und Zeit und insbeſondere auch die Zeitlichkeit aller unſerer Vorſtellungen hat zur unmittelbaren Folge eine Erſcheinung, die uns eine auch nur ſehr flüchtige Selbſter¬ kenntniß als unumſtößlichen Erfahrungsſatz aufdrängt, daß nämlich hier auf Erden immer augenblicklich nur ein Theil unſeres ganzen gei¬ ſtigen Eigenthums, nur ein Theil der uns doch ſämmtlich angehören¬ den Vorſtellungen in unſerem Bewußtſein gegenwärtig iſt, daß unſere Vorſtellungen beſtändig wechſeln, vor unſerm Bewußtſein erſcheinen, wieder demſelben ſich entziehen, und nach einiger Zeit wieder hervor¬ treten. Deshalb wird die erſte Grundlage für eine jede erfahrungsmä¬ ßig feſtzuſtellende Pſychologie eine genaue Erfahrung des Verhältniſſes in welchem unſere Vorſtellungen d. h. unſer ganzes geiſtiges Weſen und Leben zu unſerem Bewußtſein ſteht. Die Erforſchung und Aufklä¬ rung dieſes Verhältniſſes vollendet und ſichert erſt die großen Kanti¬ ſchen Endeckungen und dafür hat ſich eben Fries das unſterbliche Ver¬

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_menschengeschlecht_1863/69>, abgerufen am 24.11.2024.