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Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863.

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Dritte Vorlesung.
Raume ist, muß auch seine Eigenschaften haben. Der Raum ist aber
seinem Wesen nach nichts Ganzes, Fertiges, Vollendetes; über jede
denkbare Raumgrenze hinaus kann und muß ich immer wieder den
Raum bis ins Unendliche fort erstrecken und somit alles, was ihn er¬
füllt; so bleibt die Raumwelt nothwendig für immer unfertig, unvoll¬
endet und unvollendbar. Auf der anderen Seite kann ich den Raum
und somit alles, was in ihm ist, theilen und immer wieder theilen und
die Theilung wenigstens in Gedanken mit Hülfe der Mathematik ins
Unendliche fortsetzen, nie komme ich auf einen letzten einfachen wirklich
für sich bestehenden Theil. So hat also in der That die Raumwelt
keine wirkliche Wesenhaftigkeit. Ich finde in meinem ganzen Vorstel¬
lungskreise nur eins, was wirklich einfach und unzusammengesetzt ist,
nämlich mein geistiges Ich, den individuellen Geist, dem daher allein
wirkliches wesenhaftes Dasein zukommen kann. Aus solchen Betrach¬
tungen entwickelte sich der Spiritualismus der älteren Philosophen.
Da aber die ganze Außenwelt im Raume doch einmal für uns wirklich
vorhanden erscheint, da man im eigentlichsten Sinne des Wortes jeden
mit der Nase darauf stoßen kann, so trat bei anderen Philosophenschu¬
len jenem Spiritualismus (oder Idealismus) der reine Materialismus
entgegen. Beide Anschauungen stehen in geradestem Widerspruch mit
einander, diesen Widerspruch finden wir sobald wir in unser eignes
Innere tiefer eindringen, sogleich und scheinbar unauflöslich ausgespro¬
chen und er gestaltet sich als das, was Kant als die "Antinomieen der
menschlichen Vernunft" bezeichnete. Ueberall bei unseren Beurtheilun¬
gen der Welt stehen sich zwei Behauptungen direct gegenüber und doch
lassen sich beide vollkommen scharf und folgerichtig beweisen. Diesen
Widerspruch löste zuerst Kant, indem er nachwies, daß derselbe nur
subjectiv, in unserer Auffassung, nicht objectiv in dem Wesen be¬
gründet ist. "Es giebt nichts Wesenhaftes als den Geist, aber so wie
wir als Menschen im Erdenleben die Dinge aufzufassen gezwungen
sind, können wir das wahre geistige Wesen der Dinge in der Außen¬
welt nicht erfassen, es erscheint uns vielmehr unter der Form der

Dritte Vorleſung.
Raume iſt, muß auch ſeine Eigenſchaften haben. Der Raum iſt aber
ſeinem Weſen nach nichts Ganzes, Fertiges, Vollendetes; über jede
denkbare Raumgrenze hinaus kann und muß ich immer wieder den
Raum bis ins Unendliche fort erſtrecken und ſomit alles, was ihn er¬
füllt; ſo bleibt die Raumwelt nothwendig für immer unfertig, unvoll¬
endet und unvollendbar. Auf der anderen Seite kann ich den Raum
und ſomit alles, was in ihm iſt, theilen und immer wieder theilen und
die Theilung wenigſtens in Gedanken mit Hülfe der Mathematik ins
Unendliche fortſetzen, nie komme ich auf einen letzten einfachen wirklich
für ſich beſtehenden Theil. So hat alſo in der That die Raumwelt
keine wirkliche Weſenhaftigkeit. Ich finde in meinem ganzen Vorſtel¬
lungskreiſe nur eins, was wirklich einfach und unzuſammengeſetzt iſt,
nämlich mein geiſtiges Ich, den individuellen Geiſt, dem daher allein
wirkliches weſenhaftes Daſein zukommen kann. Aus ſolchen Betrach¬
tungen entwickelte ſich der Spiritualismus der älteren Philoſophen.
Da aber die ganze Außenwelt im Raume doch einmal für uns wirklich
vorhanden erſcheint, da man im eigentlichſten Sinne des Wortes jeden
mit der Naſe darauf ſtoßen kann, ſo trat bei anderen Philoſophenſchu¬
len jenem Spiritualismus (oder Idealismus) der reine Materialismus
entgegen. Beide Anſchauungen ſtehen in geradeſtem Widerſpruch mit
einander, dieſen Widerſpruch finden wir ſobald wir in unſer eignes
Innere tiefer eindringen, ſogleich und ſcheinbar unauflöslich ausgeſpro¬
chen und er geſtaltet ſich als das, was Kant als die „Antinomieen der
menſchlichen Vernunft“ bezeichnete. Ueberall bei unſeren Beurtheilun¬
gen der Welt ſtehen ſich zwei Behauptungen direct gegenüber und doch
laſſen ſich beide vollkommen ſcharf und folgerichtig beweiſen. Dieſen
Widerſpruch löſte zuerſt Kant, indem er nachwies, daß derſelbe nur
ſubjectiv, in unſerer Auffaſſung, nicht objectiv in dem Weſen be¬
gründet iſt. „Es giebt nichts Weſenhaftes als den Geiſt, aber ſo wie
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[58/0068] Dritte Vorleſung. Raume iſt, muß auch ſeine Eigenſchaften haben. Der Raum iſt aber ſeinem Weſen nach nichts Ganzes, Fertiges, Vollendetes; über jede denkbare Raumgrenze hinaus kann und muß ich immer wieder den Raum bis ins Unendliche fort erſtrecken und ſomit alles, was ihn er¬ füllt; ſo bleibt die Raumwelt nothwendig für immer unfertig, unvoll¬ endet und unvollendbar. Auf der anderen Seite kann ich den Raum und ſomit alles, was in ihm iſt, theilen und immer wieder theilen und die Theilung wenigſtens in Gedanken mit Hülfe der Mathematik ins Unendliche fortſetzen, nie komme ich auf einen letzten einfachen wirklich für ſich beſtehenden Theil. So hat alſo in der That die Raumwelt keine wirkliche Weſenhaftigkeit. Ich finde in meinem ganzen Vorſtel¬ lungskreiſe nur eins, was wirklich einfach und unzuſammengeſetzt iſt, nämlich mein geiſtiges Ich, den individuellen Geiſt, dem daher allein wirkliches weſenhaftes Daſein zukommen kann. Aus ſolchen Betrach¬ tungen entwickelte ſich der Spiritualismus der älteren Philoſophen. Da aber die ganze Außenwelt im Raume doch einmal für uns wirklich vorhanden erſcheint, da man im eigentlichſten Sinne des Wortes jeden mit der Naſe darauf ſtoßen kann, ſo trat bei anderen Philoſophenſchu¬ len jenem Spiritualismus (oder Idealismus) der reine Materialismus entgegen. Beide Anſchauungen ſtehen in geradeſtem Widerſpruch mit einander, dieſen Widerſpruch finden wir ſobald wir in unſer eignes Innere tiefer eindringen, ſogleich und ſcheinbar unauflöslich ausgeſpro¬ chen und er geſtaltet ſich als das, was Kant als die „Antinomieen der menſchlichen Vernunft“ bezeichnete. Ueberall bei unſeren Beurtheilun¬ gen der Welt ſtehen ſich zwei Behauptungen direct gegenüber und doch laſſen ſich beide vollkommen ſcharf und folgerichtig beweiſen. Dieſen Widerſpruch löſte zuerſt Kant, indem er nachwies, daß derſelbe nur ſubjectiv, in unſerer Auffaſſung, nicht objectiv in dem Weſen be¬ gründet iſt. „Es giebt nichts Weſenhaftes als den Geiſt, aber ſo wie wir als Menſchen im Erdenleben die Dinge aufzufaſſen gezwungen ſind, können wir das wahre geiſtige Weſen der Dinge in der Außen¬ welt nicht erfaſſen, es erſcheint uns vielmehr unter der Form der

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_menschengeschlecht_1863/68>, abgerufen am 22.11.2024.