Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863.

Bild:
<< vorherige Seite

Dritte Vorlesung.
dienst erworben. -- Beobachtung lehrt uns sehr bald, daß dasjenige
Gebiet unseres Geistes, dessen wir uns in jedem Augenblicke bewußt
sind, einen sehr veränderlichen von körperlichen Zuständen abhängigen
Umfang hat, in der ersten Kindheit, im Schlafe, in gewissen Krankhei¬
ten verschwindend klein ist, in der vollendeten Kraft unserer Entwicke¬
lung am größten erscheint und dazwischen alle Mittelstufen durchläuft.
Ebenso ist dieses Gebiet wie oben schon angedeutet für die verschiede¬
nen Individuen, wie Völker äußerst verschieden. Bei den Einen ent¬
spricht es während des ganzen Lebens nur dem nebelhaften Halbbe¬
wußtsein des Kindes, bei anderen besonders einzelnen eminenten Gei¬
stern kann es zu einer außerordentlichen Klarheit und zu einem großen
Umfang entwickelt sein. Jedes Individuum macht hier die Erfahrung,
daß diese Entwicklung zu einer vollendeteren Bewußtseinsstufe von zwei
Verhältnissen abhängt, -- einmal von der natürlichen Anlage des kör¬
perlichen Organs, die im Großen, wie die Vorzüge unserer Haus¬
thiere, rassenmäßig, also nach Volksstämmen, bedingt ist, und aus¬
nahmsweise in der körperlichen Begünstigung eines Einzelnen gegeben
wird -- anderseits aber auch von dem Grade der Aufmerksamkeit, des
Fleißes, der Denkanstrengung, die jeder Einzelne auf die Entwicklung
seines geistigen Lebens verwendet, abhängig wird und dadurch zu einem
höheren Grade der Vollkommenheit gebracht werden kann. Erfahrungs¬
mäßig grenzt der Zustand des Schlafwandlers, des Kindes, der auf
der tiefsten Stufe stehenden Nationen wie der Australneger unmittelbar
an den schlummernden Zustand, in welchem sich das geistige Wesen bei
den höheren Thieren befindet.

Fassen wir nun alle diese Andeutungen, denn mehr als solche wä¬
ren hier nicht am Platze gewesen, zusammen und wenden sie auf die
Frage nach der Stellung des Menschen zum Thiere an, so erhalten wir
folgende Antwort. -- Die irdische Erscheinung unseres Geistes ist an
ein körperliches Organ, das Gehirn gebunden, jeder Aeußerung geisti¬
gen Lebens entspricht ein Organisationsverhältniß und eine Thätigkeit
desselben. Unter allen Erscheinungen des Geisteslebens ist das Be¬

Dritte Vorleſung.
dienſt erworben. — Beobachtung lehrt uns ſehr bald, daß dasjenige
Gebiet unſeres Geiſtes, deſſen wir uns in jedem Augenblicke bewußt
ſind, einen ſehr veränderlichen von körperlichen Zuſtänden abhängigen
Umfang hat, in der erſten Kindheit, im Schlafe, in gewiſſen Krankhei¬
ten verſchwindend klein iſt, in der vollendeten Kraft unſerer Entwicke¬
lung am größten erſcheint und dazwiſchen alle Mittelſtufen durchläuft.
Ebenſo iſt dieſes Gebiet wie oben ſchon angedeutet für die verſchiede¬
nen Individuen, wie Völker äußerſt verſchieden. Bei den Einen ent¬
ſpricht es während des ganzen Lebens nur dem nebelhaften Halbbe¬
wußtſein des Kindes, bei anderen beſonders einzelnen eminenten Gei¬
ſtern kann es zu einer außerordentlichen Klarheit und zu einem großen
Umfang entwickelt ſein. Jedes Individuum macht hier die Erfahrung,
daß dieſe Entwicklung zu einer vollendeteren Bewußtſeinsſtufe von zwei
Verhältniſſen abhängt, — einmal von der natürlichen Anlage des kör¬
perlichen Organs, die im Großen, wie die Vorzüge unſerer Haus¬
thiere, raſſenmäßig, alſo nach Volksſtämmen, bedingt iſt, und aus¬
nahmsweiſe in der körperlichen Begünſtigung eines Einzelnen gegeben
wird — anderſeits aber auch von dem Grade der Aufmerkſamkeit, des
Fleißes, der Denkanſtrengung, die jeder Einzelne auf die Entwicklung
ſeines geiſtigen Lebens verwendet, abhängig wird und dadurch zu einem
höheren Grade der Vollkommenheit gebracht werden kann. Erfahrungs¬
mäßig grenzt der Zuſtand des Schlafwandlers, des Kindes, der auf
der tiefſten Stufe ſtehenden Nationen wie der Auſtralneger unmittelbar
an den ſchlummernden Zuſtand, in welchem ſich das geiſtige Weſen bei
den höheren Thieren befindet.

Faſſen wir nun alle dieſe Andeutungen, denn mehr als ſolche wä¬
ren hier nicht am Platze geweſen, zuſammen und wenden ſie auf die
Frage nach der Stellung des Menſchen zum Thiere an, ſo erhalten wir
folgende Antwort. — Die irdiſche Erſcheinung unſeres Geiſtes iſt an
ein körperliches Organ, das Gehirn gebunden, jeder Aeußerung geiſti¬
gen Lebens entſpricht ein Organiſationsverhältniß und eine Thätigkeit
desſelben. Unter allen Erſcheinungen des Geiſteslebens iſt das Be¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0070" n="60"/><fw place="top" type="header">Dritte Vorle&#x017F;ung.<lb/></fw>dien&#x017F;t erworben. &#x2014; Beobachtung lehrt uns &#x017F;ehr bald, daß dasjenige<lb/>
Gebiet un&#x017F;eres Gei&#x017F;tes, de&#x017F;&#x017F;en wir uns in jedem Augenblicke bewußt<lb/>
&#x017F;ind, einen &#x017F;ehr veränderlichen von körperlichen Zu&#x017F;tänden abhängigen<lb/>
Umfang hat, in der er&#x017F;ten Kindheit, im Schlafe, in gewi&#x017F;&#x017F;en Krankhei¬<lb/>
ten ver&#x017F;chwindend klein i&#x017F;t, in der vollendeten Kraft un&#x017F;erer Entwicke¬<lb/>
lung am größten er&#x017F;cheint und dazwi&#x017F;chen alle Mittel&#x017F;tufen durchläuft.<lb/>
Eben&#x017F;o i&#x017F;t die&#x017F;es Gebiet wie oben &#x017F;chon angedeutet für die ver&#x017F;chiede¬<lb/>
nen Individuen, wie Völker äußer&#x017F;t ver&#x017F;chieden. Bei den Einen ent¬<lb/>
&#x017F;pricht es während des ganzen Lebens nur dem nebelhaften Halbbe¬<lb/>
wußt&#x017F;ein des Kindes, bei anderen be&#x017F;onders einzelnen eminenten Gei¬<lb/>
&#x017F;tern kann es zu einer außerordentlichen Klarheit und zu einem großen<lb/>
Umfang entwickelt &#x017F;ein. Jedes Individuum macht hier die Erfahrung,<lb/>
daß die&#x017F;e Entwicklung zu einer vollendeteren Bewußt&#x017F;eins&#x017F;tufe von zwei<lb/>
Verhältni&#x017F;&#x017F;en abhängt, &#x2014; einmal von der natürlichen Anlage des kör¬<lb/>
perlichen Organs, die im Großen, wie die Vorzüge un&#x017F;erer Haus¬<lb/>
thiere, ra&#x017F;&#x017F;enmäßig, al&#x017F;o nach Volks&#x017F;tämmen, bedingt i&#x017F;t, und aus¬<lb/>
nahmswei&#x017F;e in der körperlichen Begün&#x017F;tigung eines Einzelnen gegeben<lb/>
wird &#x2014; ander&#x017F;eits aber auch von dem Grade der Aufmerk&#x017F;amkeit, des<lb/>
Fleißes, der Denkan&#x017F;trengung, die jeder Einzelne auf die Entwicklung<lb/>
&#x017F;eines gei&#x017F;tigen Lebens verwendet, abhängig wird und dadurch zu einem<lb/>
höheren Grade der Vollkommenheit gebracht werden kann. Erfahrungs¬<lb/>
mäßig grenzt der Zu&#x017F;tand des Schlafwandlers, des Kindes, der auf<lb/>
der tief&#x017F;ten Stufe &#x017F;tehenden Nationen wie der Au&#x017F;tralneger unmittelbar<lb/>
an den &#x017F;chlummernden Zu&#x017F;tand, in welchem &#x017F;ich das gei&#x017F;tige We&#x017F;en bei<lb/>
den höheren Thieren befindet.</p><lb/>
        <p>Fa&#x017F;&#x017F;en wir nun alle die&#x017F;e Andeutungen, denn mehr als &#x017F;olche wä¬<lb/>
ren hier nicht am Platze gewe&#x017F;en, zu&#x017F;ammen und wenden &#x017F;ie auf die<lb/>
Frage nach der Stellung des Men&#x017F;chen zum Thiere an, &#x017F;o erhalten wir<lb/>
folgende Antwort. &#x2014; Die irdi&#x017F;che Er&#x017F;cheinung un&#x017F;eres Gei&#x017F;tes i&#x017F;t an<lb/>
ein körperliches Organ, das Gehirn gebunden, jeder Aeußerung gei&#x017F;ti¬<lb/>
gen Lebens ent&#x017F;pricht ein Organi&#x017F;ationsverhältniß und eine Thätigkeit<lb/>
des&#x017F;elben. Unter allen Er&#x017F;cheinungen des Gei&#x017F;teslebens i&#x017F;t das Be¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[60/0070] Dritte Vorleſung. dienſt erworben. — Beobachtung lehrt uns ſehr bald, daß dasjenige Gebiet unſeres Geiſtes, deſſen wir uns in jedem Augenblicke bewußt ſind, einen ſehr veränderlichen von körperlichen Zuſtänden abhängigen Umfang hat, in der erſten Kindheit, im Schlafe, in gewiſſen Krankhei¬ ten verſchwindend klein iſt, in der vollendeten Kraft unſerer Entwicke¬ lung am größten erſcheint und dazwiſchen alle Mittelſtufen durchläuft. Ebenſo iſt dieſes Gebiet wie oben ſchon angedeutet für die verſchiede¬ nen Individuen, wie Völker äußerſt verſchieden. Bei den Einen ent¬ ſpricht es während des ganzen Lebens nur dem nebelhaften Halbbe¬ wußtſein des Kindes, bei anderen beſonders einzelnen eminenten Gei¬ ſtern kann es zu einer außerordentlichen Klarheit und zu einem großen Umfang entwickelt ſein. Jedes Individuum macht hier die Erfahrung, daß dieſe Entwicklung zu einer vollendeteren Bewußtſeinsſtufe von zwei Verhältniſſen abhängt, — einmal von der natürlichen Anlage des kör¬ perlichen Organs, die im Großen, wie die Vorzüge unſerer Haus¬ thiere, raſſenmäßig, alſo nach Volksſtämmen, bedingt iſt, und aus¬ nahmsweiſe in der körperlichen Begünſtigung eines Einzelnen gegeben wird — anderſeits aber auch von dem Grade der Aufmerkſamkeit, des Fleißes, der Denkanſtrengung, die jeder Einzelne auf die Entwicklung ſeines geiſtigen Lebens verwendet, abhängig wird und dadurch zu einem höheren Grade der Vollkommenheit gebracht werden kann. Erfahrungs¬ mäßig grenzt der Zuſtand des Schlafwandlers, des Kindes, der auf der tiefſten Stufe ſtehenden Nationen wie der Auſtralneger unmittelbar an den ſchlummernden Zuſtand, in welchem ſich das geiſtige Weſen bei den höheren Thieren befindet. Faſſen wir nun alle dieſe Andeutungen, denn mehr als ſolche wä¬ ren hier nicht am Platze geweſen, zuſammen und wenden ſie auf die Frage nach der Stellung des Menſchen zum Thiere an, ſo erhalten wir folgende Antwort. — Die irdiſche Erſcheinung unſeres Geiſtes iſt an ein körperliches Organ, das Gehirn gebunden, jeder Aeußerung geiſti¬ gen Lebens entſpricht ein Organiſationsverhältniß und eine Thätigkeit desſelben. Unter allen Erſcheinungen des Geiſteslebens iſt das Be¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_menschengeschlecht_1863
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_menschengeschlecht_1863/70
Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_menschengeschlecht_1863/70>, abgerufen am 03.05.2024.