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Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863.

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Stellung des Menschen in der Natur.
werfen und man muß die vielen verbindenden Mittelglieder in der Ge¬
sammtauffassung festhalten und nicht mit gedankenloser Vergeßlichkeit
Anfang und Ende der Untersuchung zusammenknüpfen, indem man die
verbindenden Mittelglieder überspringt. Wenn selbst sogenannte wissen¬
schaftlich gebildete Männer die Darwin'sche Lehre so darstellen (wie ich
das in der That oft gehört): "Darwin macht den Affen zu unserem
Großvater", so bleibt dabei dreierlei, was doch wesentlich entscheidend
ist, in kindischer Oberflächlichkeit ganz unberücksichtigt, nämlich 1. daß
bekanntlich ein häßlicher und dummer Großvater allerdings einen schö¬
nen und klugen Enkel haben kann, 2. daß "wir", das heißt die gebil¬
detsten Individuen der Europäischen Menschheit, den Begriff "Mensch",
in dessen Umfang auch Papua's, Neuseeländer und Pescherä's gehören,
noch lange nicht ausfüllen und daß endlich 3. der Ausdruck Großvater
sehr thöricht gewählt ist, um eine Verwandtschaft zu bezeichnen, die
durch Reihen von Generationen durchgeht, gegen welche unsere ganze
sogenannte Weltgeschichte als ein höchst unbedeutender Augenblick er¬
scheint.

Wenn wir bei der Frage: was ist der Mensch und wie unterschei¬
det er sich vom Thiere, nicht von vorgefaßten Meinungen ausgehen,
sondern ganz kühl und objectiv die wirklichen Thatsachen, wie sie Ge¬
schichte, Völkerkunde und Naturgeschichte uns darbieten ins Auge fas¬
sen, so bleibt uns nichts übrig als zu gestehen, daß der Sprung vom
Menschen zum Thiere lange nicht so groß ist als wir ihn gerne sehen
möchten. Nehmen wir einen ganz entwickelten Menschen z. B. einen
Goethe in der Vollendung seiner körperlichen Bildung, ein ästhetisches
Ideal der edlen Menschengestalt, nach Form und Thätigkeit gleichmässig
schön, gesund und harmonisch ausgeprägt, dann in dem umfassenden
Reichthum geistigen Gehaltes, der ihm zum vollen Bewußtsein und zur
lebendigen Gestaltung gediehen ist, -- und nun stellen wir ihm einen
Australneger gegenüber mit der fast thierischen Fratze, dem in jeder Be¬
ziehung unentwickelten und häßlichen Körper und dazu den engen auf
das bloße thierische Bedürfniß der Ernährung, Fortpflanzung und Ver¬

Schleiden, Vorlesungen. 4

Stellung des Menſchen in der Natur.
werfen und man muß die vielen verbindenden Mittelglieder in der Ge¬
ſammtauffaſſung feſthalten und nicht mit gedankenloſer Vergeßlichkeit
Anfang und Ende der Unterſuchung zuſammenknüpfen, indem man die
verbindenden Mittelglieder überſpringt. Wenn ſelbſt ſogenannte wiſſen¬
ſchaftlich gebildete Männer die Darwin'ſche Lehre ſo darſtellen (wie ich
das in der That oft gehört): „Darwin macht den Affen zu unſerem
Großvater“, ſo bleibt dabei dreierlei, was doch weſentlich entſcheidend
iſt, in kindiſcher Oberflächlichkeit ganz unberückſichtigt, nämlich 1. daß
bekanntlich ein häßlicher und dummer Großvater allerdings einen ſchö¬
nen und klugen Enkel haben kann, 2. daß „wir“, das heißt die gebil¬
detſten Individuen der Europäiſchen Menſchheit, den Begriff „Menſch“,
in deſſen Umfang auch Papua's, Neuſeeländer und Peſcherä's gehören,
noch lange nicht ausfüllen und daß endlich 3. der Ausdruck Großvater
ſehr thöricht gewählt iſt, um eine Verwandtſchaft zu bezeichnen, die
durch Reihen von Generationen durchgeht, gegen welche unſere ganze
ſogenannte Weltgeſchichte als ein höchſt unbedeutender Augenblick er¬
ſcheint.

Wenn wir bei der Frage: was iſt der Menſch und wie unterſchei¬
det er ſich vom Thiere, nicht von vorgefaßten Meinungen ausgehen,
ſondern ganz kühl und objectiv die wirklichen Thatſachen, wie ſie Ge¬
ſchichte, Völkerkunde und Naturgeſchichte uns darbieten ins Auge faſ¬
ſen, ſo bleibt uns nichts übrig als zu geſtehen, daß der Sprung vom
Menſchen zum Thiere lange nicht ſo groß iſt als wir ihn gerne ſehen
möchten. Nehmen wir einen ganz entwickelten Menſchen z. B. einen
Goethe in der Vollendung ſeiner körperlichen Bildung, ein äſthetiſches
Ideal der edlen Menſchengeſtalt, nach Form und Thätigkeit gleichmäſſig
ſchön, geſund und harmoniſch ausgeprägt, dann in dem umfaſſenden
Reichthum geiſtigen Gehaltes, der ihm zum vollen Bewußtſein und zur
lebendigen Geſtaltung gediehen iſt, — und nun ſtellen wir ihm einen
Auſtralneger gegenüber mit der faſt thieriſchen Fratze, dem in jeder Be¬
ziehung unentwickelten und häßlichen Körper und dazu den engen auf
das bloße thieriſche Bedürfniß der Ernährung, Fortpflanzung und Ver¬

Schleiden, Vorleſungen. 4
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[47/0057] Stellung des Menſchen in der Natur. werfen und man muß die vielen verbindenden Mittelglieder in der Ge¬ ſammtauffaſſung feſthalten und nicht mit gedankenloſer Vergeßlichkeit Anfang und Ende der Unterſuchung zuſammenknüpfen, indem man die verbindenden Mittelglieder überſpringt. Wenn ſelbſt ſogenannte wiſſen¬ ſchaftlich gebildete Männer die Darwin'ſche Lehre ſo darſtellen (wie ich das in der That oft gehört): „Darwin macht den Affen zu unſerem Großvater“, ſo bleibt dabei dreierlei, was doch weſentlich entſcheidend iſt, in kindiſcher Oberflächlichkeit ganz unberückſichtigt, nämlich 1. daß bekanntlich ein häßlicher und dummer Großvater allerdings einen ſchö¬ nen und klugen Enkel haben kann, 2. daß „wir“, das heißt die gebil¬ detſten Individuen der Europäiſchen Menſchheit, den Begriff „Menſch“, in deſſen Umfang auch Papua's, Neuſeeländer und Peſcherä's gehören, noch lange nicht ausfüllen und daß endlich 3. der Ausdruck Großvater ſehr thöricht gewählt iſt, um eine Verwandtſchaft zu bezeichnen, die durch Reihen von Generationen durchgeht, gegen welche unſere ganze ſogenannte Weltgeſchichte als ein höchſt unbedeutender Augenblick er¬ ſcheint. Wenn wir bei der Frage: was iſt der Menſch und wie unterſchei¬ det er ſich vom Thiere, nicht von vorgefaßten Meinungen ausgehen, ſondern ganz kühl und objectiv die wirklichen Thatſachen, wie ſie Ge¬ ſchichte, Völkerkunde und Naturgeſchichte uns darbieten ins Auge faſ¬ ſen, ſo bleibt uns nichts übrig als zu geſtehen, daß der Sprung vom Menſchen zum Thiere lange nicht ſo groß iſt als wir ihn gerne ſehen möchten. Nehmen wir einen ganz entwickelten Menſchen z. B. einen Goethe in der Vollendung ſeiner körperlichen Bildung, ein äſthetiſches Ideal der edlen Menſchengeſtalt, nach Form und Thätigkeit gleichmäſſig ſchön, geſund und harmoniſch ausgeprägt, dann in dem umfaſſenden Reichthum geiſtigen Gehaltes, der ihm zum vollen Bewußtſein und zur lebendigen Geſtaltung gediehen iſt, — und nun ſtellen wir ihm einen Auſtralneger gegenüber mit der faſt thieriſchen Fratze, dem in jeder Be¬ ziehung unentwickelten und häßlichen Körper und dazu den engen auf das bloße thieriſche Bedürfniß der Ernährung, Fortpflanzung und Ver¬ Schleiden, Vorleſungen. 4

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_menschengeschlecht_1863/57>, abgerufen am 22.11.2024.