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Schlegel, Friedrich von: Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Heidelberg, 1808.

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sophie bei irgend einem Volke entstanden sei, das
wirklich sich selbst überlassen und von den Quellen
und Strömen der alten gemeinsamen Ueberliefe-
rung ganz weit entfernt lag; und wenn diese Weis-
heit wirklich so ganz aus sich selbst geschöpft wäre,
als sie es vorgiebt, so würde sie sich wohl auch
selbst besser aus den unsäglichen Verirrungen
helfen können, in die sie sich auf diesem Wege
jederzeit verwickelt hat. Diese häufen sich immer
so sehr und so schnell, daß die Philosophie bald
skeptisch wird, bis sie endlich, wenn die Verstan-
deskräfte durch langes Zweifeln hinlänglich ge-
schwächt worden, zu der blos empirischen Denkart
herabsinkt, wo der Gedanke der Gottheit, wenn
er auch dem Nahmen nach stehen bleibt, doch im
Grunde vernichtet wird, überhaupt die Idee ganz
verschwindet, und der Mensch unter dem Vor-
wand einer vernünftigen Beschränkung auf den
allein nützlichen Erfahrungskreis, den höheren
Geist, der ihn doch allein wesentlich vom Thier
unterscheidet, als ein falsches Streben aufgiebt.
Das Trostlose dieses lezten Geisteszustandes pflegt
einzelne Denker zu wecken, denen es unmöglich
bleibt, darin zu verharren, und die also irgend

ſophie bei irgend einem Volke entſtanden ſei, das
wirklich ſich ſelbſt uͤberlaſſen und von den Quellen
und Stroͤmen der alten gemeinſamen Ueberliefe-
rung ganz weit entfernt lag; und wenn dieſe Weis-
heit wirklich ſo ganz aus ſich ſelbſt geſchoͤpft waͤre,
als ſie es vorgiebt, ſo wuͤrde ſie ſich wohl auch
ſelbſt beſſer aus den unſaͤglichen Verirrungen
helfen koͤnnen, in die ſie ſich auf dieſem Wege
jederzeit verwickelt hat. Dieſe haͤufen ſich immer
ſo ſehr und ſo ſchnell, daß die Philoſophie bald
ſkeptiſch wird, bis ſie endlich, wenn die Verſtan-
deskraͤfte durch langes Zweifeln hinlaͤnglich ge-
ſchwaͤcht worden, zu der blos empiriſchen Denkart
herabſinkt, wo der Gedanke der Gottheit, wenn
er auch dem Nahmen nach ſtehen bleibt, doch im
Grunde vernichtet wird, uͤberhaupt die Idee ganz
verſchwindet, und der Menſch unter dem Vor-
wand einer vernuͤnftigen Beſchraͤnkung auf den
allein nuͤtzlichen Erfahrungskreis, den hoͤheren
Geiſt, der ihn doch allein weſentlich vom Thier
unterſcheidet, als ein falſches Streben aufgiebt.
Das Troſtloſe dieſes lezten Geiſteszuſtandes pflegt
einzelne Denker zu wecken, denen es unmoͤglich
bleibt, darin zu verharren, und die alſo irgend

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[206/0225] ſophie bei irgend einem Volke entſtanden ſei, das wirklich ſich ſelbſt uͤberlaſſen und von den Quellen und Stroͤmen der alten gemeinſamen Ueberliefe- rung ganz weit entfernt lag; und wenn dieſe Weis- heit wirklich ſo ganz aus ſich ſelbſt geſchoͤpft waͤre, als ſie es vorgiebt, ſo wuͤrde ſie ſich wohl auch ſelbſt beſſer aus den unſaͤglichen Verirrungen helfen koͤnnen, in die ſie ſich auf dieſem Wege jederzeit verwickelt hat. Dieſe haͤufen ſich immer ſo ſehr und ſo ſchnell, daß die Philoſophie bald ſkeptiſch wird, bis ſie endlich, wenn die Verſtan- deskraͤfte durch langes Zweifeln hinlaͤnglich ge- ſchwaͤcht worden, zu der blos empiriſchen Denkart herabſinkt, wo der Gedanke der Gottheit, wenn er auch dem Nahmen nach ſtehen bleibt, doch im Grunde vernichtet wird, uͤberhaupt die Idee ganz verſchwindet, und der Menſch unter dem Vor- wand einer vernuͤnftigen Beſchraͤnkung auf den allein nuͤtzlichen Erfahrungskreis, den hoͤheren Geiſt, der ihn doch allein weſentlich vom Thier unterſcheidet, als ein falſches Streben aufgiebt. Das Troſtloſe dieſes lezten Geiſteszuſtandes pflegt einzelne Denker zu wecken, denen es unmoͤglich bleibt, darin zu verharren, und die alſo irgend

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Zitationshilfe: Schlegel, Friedrich von: Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Heidelberg, 1808, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_indier_1808/225>, abgerufen am 28.11.2024.