sophie bei irgend einem Volke entstanden sei, das wirklich sich selbst überlassen und von den Quellen und Strömen der alten gemeinsamen Ueberliefe- rung ganz weit entfernt lag; und wenn diese Weis- heit wirklich so ganz aus sich selbst geschöpft wäre, als sie es vorgiebt, so würde sie sich wohl auch selbst besser aus den unsäglichen Verirrungen helfen können, in die sie sich auf diesem Wege jederzeit verwickelt hat. Diese häufen sich immer so sehr und so schnell, daß die Philosophie bald skeptisch wird, bis sie endlich, wenn die Verstan- deskräfte durch langes Zweifeln hinlänglich ge- schwächt worden, zu der blos empirischen Denkart herabsinkt, wo der Gedanke der Gottheit, wenn er auch dem Nahmen nach stehen bleibt, doch im Grunde vernichtet wird, überhaupt die Idee ganz verschwindet, und der Mensch unter dem Vor- wand einer vernünftigen Beschränkung auf den allein nützlichen Erfahrungskreis, den höheren Geist, der ihn doch allein wesentlich vom Thier unterscheidet, als ein falsches Streben aufgiebt. Das Trostlose dieses lezten Geisteszustandes pflegt einzelne Denker zu wecken, denen es unmöglich bleibt, darin zu verharren, und die also irgend
ſophie bei irgend einem Volke entſtanden ſei, das wirklich ſich ſelbſt uͤberlaſſen und von den Quellen und Stroͤmen der alten gemeinſamen Ueberliefe- rung ganz weit entfernt lag; und wenn dieſe Weis- heit wirklich ſo ganz aus ſich ſelbſt geſchoͤpft waͤre, als ſie es vorgiebt, ſo wuͤrde ſie ſich wohl auch ſelbſt beſſer aus den unſaͤglichen Verirrungen helfen koͤnnen, in die ſie ſich auf dieſem Wege jederzeit verwickelt hat. Dieſe haͤufen ſich immer ſo ſehr und ſo ſchnell, daß die Philoſophie bald ſkeptiſch wird, bis ſie endlich, wenn die Verſtan- deskraͤfte durch langes Zweifeln hinlaͤnglich ge- ſchwaͤcht worden, zu der blos empiriſchen Denkart herabſinkt, wo der Gedanke der Gottheit, wenn er auch dem Nahmen nach ſtehen bleibt, doch im Grunde vernichtet wird, uͤberhaupt die Idee ganz verſchwindet, und der Menſch unter dem Vor- wand einer vernuͤnftigen Beſchraͤnkung auf den allein nuͤtzlichen Erfahrungskreis, den hoͤheren Geiſt, der ihn doch allein weſentlich vom Thier unterſcheidet, als ein falſches Streben aufgiebt. Das Troſtloſe dieſes lezten Geiſteszuſtandes pflegt einzelne Denker zu wecken, denen es unmoͤglich bleibt, darin zu verharren, und die alſo irgend
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0225"n="206"/>ſophie bei irgend einem Volke entſtanden ſei, das<lb/>
wirklich ſich ſelbſt uͤberlaſſen und von den Quellen<lb/>
und Stroͤmen der alten gemeinſamen Ueberliefe-<lb/>
rung ganz weit entfernt lag; und wenn dieſe Weis-<lb/>
heit wirklich ſo ganz aus ſich ſelbſt geſchoͤpft waͤre,<lb/>
als ſie es vorgiebt, ſo wuͤrde ſie ſich wohl auch<lb/>ſelbſt beſſer aus den unſaͤglichen Verirrungen<lb/>
helfen koͤnnen, in die ſie ſich auf dieſem Wege<lb/>
jederzeit verwickelt hat. Dieſe haͤufen ſich immer<lb/>ſo ſehr und ſo ſchnell, daß die Philoſophie bald<lb/>ſkeptiſch wird, bis ſie endlich, wenn die Verſtan-<lb/>
deskraͤfte durch langes Zweifeln hinlaͤnglich ge-<lb/>ſchwaͤcht worden, zu der blos empiriſchen Denkart<lb/>
herabſinkt, wo der Gedanke der Gottheit, wenn<lb/>
er auch dem Nahmen nach ſtehen bleibt, doch im<lb/>
Grunde vernichtet wird, uͤberhaupt die Idee ganz<lb/>
verſchwindet, und der Menſch unter dem Vor-<lb/>
wand einer vernuͤnftigen Beſchraͤnkung auf den<lb/>
allein nuͤtzlichen Erfahrungskreis, den hoͤheren<lb/>
Geiſt, der ihn doch allein weſentlich vom Thier<lb/>
unterſcheidet, als ein falſches Streben aufgiebt.<lb/>
Das Troſtloſe dieſes lezten Geiſteszuſtandes pflegt<lb/>
einzelne Denker zu wecken, denen es unmoͤglich<lb/>
bleibt, darin zu verharren, und die alſo irgend<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[206/0225]
ſophie bei irgend einem Volke entſtanden ſei, das
wirklich ſich ſelbſt uͤberlaſſen und von den Quellen
und Stroͤmen der alten gemeinſamen Ueberliefe-
rung ganz weit entfernt lag; und wenn dieſe Weis-
heit wirklich ſo ganz aus ſich ſelbſt geſchoͤpft waͤre,
als ſie es vorgiebt, ſo wuͤrde ſie ſich wohl auch
ſelbſt beſſer aus den unſaͤglichen Verirrungen
helfen koͤnnen, in die ſie ſich auf dieſem Wege
jederzeit verwickelt hat. Dieſe haͤufen ſich immer
ſo ſehr und ſo ſchnell, daß die Philoſophie bald
ſkeptiſch wird, bis ſie endlich, wenn die Verſtan-
deskraͤfte durch langes Zweifeln hinlaͤnglich ge-
ſchwaͤcht worden, zu der blos empiriſchen Denkart
herabſinkt, wo der Gedanke der Gottheit, wenn
er auch dem Nahmen nach ſtehen bleibt, doch im
Grunde vernichtet wird, uͤberhaupt die Idee ganz
verſchwindet, und der Menſch unter dem Vor-
wand einer vernuͤnftigen Beſchraͤnkung auf den
allein nuͤtzlichen Erfahrungskreis, den hoͤheren
Geiſt, der ihn doch allein weſentlich vom Thier
unterſcheidet, als ein falſches Streben aufgiebt.
Das Troſtloſe dieſes lezten Geiſteszuſtandes pflegt
einzelne Denker zu wecken, denen es unmoͤglich
bleibt, darin zu verharren, und die alſo irgend
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schlegel, Friedrich von: Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Heidelberg, 1808, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_indier_1808/225>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.