deren gewöhnlicher und gleichsam natürlicher Lauf fast immer nach Nordwesten gerichtet war, hier vom Osten und vom Süden her zusammentraf, hier also die Mischung am mannichfaltigsten und fruchtbarsten, und dieser Erdstrich wirklich die Stätte war, wo von Alters her Nationen ent- standen und sich bildeten.
Man wird nie eine klare und verständliche Ansicht der ältesten Geschichte erhalten, so lange man die Wanderungen der Völker nur als ein Drängen und Stoßen, wie nach blos mechanischen Gesetzen betrachtet, ohne zugleich auf die Bedin- gungen Rücksicht zu nehmen, wodurch ein großer Stamm sich in mehre kleine theilen, und im- mer individueller absondern und entwickeln mag, oder wie auch durch Mischung aus mehren ver- schiedenen Völkern ein drittes ganz neues ent- stehen kann, das in Sprache und Charakter eigen- thümlich gezeichnet und geartet ist. Nur durch eine solche genetische Ansicht kommt Licht in das Chacs von Thatsachen und Ueberlieferungen und wohl oder übel begründeten Meinungen, welches wir alte Geschichte nennen.
deren gewoͤhnlicher und gleichſam natuͤrlicher Lauf faſt immer nach Nordweſten gerichtet war, hier vom Oſten und vom Suͤden her zuſammentraf, hier alſo die Miſchung am mannichfaltigſten und fruchtbarſten, und dieſer Erdſtrich wirklich die Staͤtte war, wo von Alters her Nationen ent- ſtanden und ſich bildeten.
Man wird nie eine klare und verſtaͤndliche Anſicht der aͤlteſten Geſchichte erhalten, ſo lange man die Wanderungen der Voͤlker nur als ein Draͤngen und Stoßen, wie nach blos mechaniſchen Geſetzen betrachtet, ohne zugleich auf die Bedin- gungen Ruͤckſicht zu nehmen, wodurch ein großer Stamm ſich in mehre kleine theilen, und im- mer individueller abſondern und entwickeln mag, oder wie auch durch Miſchung aus mehren ver- ſchiedenen Voͤlkern ein drittes ganz neues ent- ſtehen kann, das in Sprache und Charakter eigen- thuͤmlich gezeichnet und geartet iſt. Nur durch eine ſolche genetiſche Anſicht kommt Licht in das Chacs von Thatſachen und Ueberlieferungen und wohl oder uͤbel begruͤndeten Meinungen, welches wir alte Geſchichte nennen.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0190"n="171"/>
deren gewoͤhnlicher und gleichſam natuͤrlicher Lauf<lb/>
faſt immer nach Nordweſten gerichtet war, hier<lb/>
vom Oſten und vom Suͤden her zuſammentraf,<lb/>
hier alſo die Miſchung am mannichfaltigſten und<lb/>
fruchtbarſten, und dieſer Erdſtrich wirklich die<lb/>
Staͤtte war, wo von Alters her Nationen ent-<lb/>ſtanden und ſich bildeten.</p><lb/><p>Man wird nie eine klare und verſtaͤndliche<lb/>
Anſicht der aͤlteſten Geſchichte erhalten, ſo lange<lb/>
man die Wanderungen der Voͤlker nur als ein<lb/>
Draͤngen und Stoßen, wie nach blos mechaniſchen<lb/>
Geſetzen betrachtet, ohne zugleich auf die Bedin-<lb/>
gungen Ruͤckſicht zu nehmen, wodurch ein großer<lb/>
Stamm ſich in mehre kleine theilen, und im-<lb/>
mer individueller abſondern und entwickeln mag,<lb/>
oder wie auch durch Miſchung aus mehren ver-<lb/>ſchiedenen Voͤlkern ein drittes ganz neues ent-<lb/>ſtehen kann, das in Sprache und Charakter eigen-<lb/>
thuͤmlich gezeichnet und geartet iſt. Nur durch<lb/>
eine ſolche genetiſche Anſicht kommt Licht in das<lb/>
Chacs von Thatſachen und Ueberlieferungen und<lb/>
wohl oder uͤbel begruͤndeten Meinungen, welches<lb/>
wir alte Geſchichte nennen.</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[171/0190]
deren gewoͤhnlicher und gleichſam natuͤrlicher Lauf
faſt immer nach Nordweſten gerichtet war, hier
vom Oſten und vom Suͤden her zuſammentraf,
hier alſo die Miſchung am mannichfaltigſten und
fruchtbarſten, und dieſer Erdſtrich wirklich die
Staͤtte war, wo von Alters her Nationen ent-
ſtanden und ſich bildeten.
Man wird nie eine klare und verſtaͤndliche
Anſicht der aͤlteſten Geſchichte erhalten, ſo lange
man die Wanderungen der Voͤlker nur als ein
Draͤngen und Stoßen, wie nach blos mechaniſchen
Geſetzen betrachtet, ohne zugleich auf die Bedin-
gungen Ruͤckſicht zu nehmen, wodurch ein großer
Stamm ſich in mehre kleine theilen, und im-
mer individueller abſondern und entwickeln mag,
oder wie auch durch Miſchung aus mehren ver-
ſchiedenen Voͤlkern ein drittes ganz neues ent-
ſtehen kann, das in Sprache und Charakter eigen-
thuͤmlich gezeichnet und geartet iſt. Nur durch
eine ſolche genetiſche Anſicht kommt Licht in das
Chacs von Thatſachen und Ueberlieferungen und
wohl oder uͤbel begruͤndeten Meinungen, welches
wir alte Geſchichte nennen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schlegel, Friedrich von: Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Heidelberg, 1808, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_indier_1808/190>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.