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Schlegel, Friedrich von: Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Heidelberg, 1808.

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tend, durch das ganze System ihrer Denkart
und ihres Lebens fort hinschleicht; wir können,
sage ich, den alten Indiern die Erkenntniß des
wahren Gottes nicht füglich absprechen, da alle
ihre alten Schriften voll sind von Sprüchen
und Ausdrücken, die so würdig, klar, und er-
haben, so tiefsinnig und sorgfältig unterscheidend
und bedeutend sind, als menschliche Sprache nur
überhaupt von Gott zu reden vermag. Wie
kommt nun so hohe Weisheit zusammen mit der
Fülle des Irrthums?

Was aber noch mehr Erstaunen erregen
muß, als die reinsten Begriffe von der Gottheit
in dem ältesten System des Aberglaubens zu
finden, ist der damit verbundene Glaube an die
Unsterblichkeit der Seele, der nicht bloße Wahr-
scheinlichkeit war, durch langes Nachdenken all-
mählig gefunden, oder ferne Dichtung von einer
unbestimmten Schattenwelt, sondern feste und
klare Gewißheit, so daß der Gedanke des andern
Lebens herrschender Bestimmungsgrund aller
Handlungen in diesem ward. Ziel und Seele
der ganzen Verfassung, aller Gesetze und Ein-
richtungen, bis auf die geringsten Gebräuche.

tend, durch das ganze Syſtem ihrer Denkart
und ihres Lebens fort hinſchleicht; wir koͤnnen,
ſage ich, den alten Indiern die Erkenntniß des
wahren Gottes nicht fuͤglich abſprechen, da alle
ihre alten Schriften voll ſind von Spruͤchen
und Ausdruͤcken, die ſo wuͤrdig, klar, und er-
haben, ſo tiefſinnig und ſorgfaͤltig unterſcheidend
und bedeutend ſind, als menſchliche Sprache nur
uͤberhaupt von Gott zu reden vermag. Wie
kommt nun ſo hohe Weisheit zuſammen mit der
Fuͤlle des Irrthums?

Was aber noch mehr Erſtaunen erregen
muß, als die reinſten Begriffe von der Gottheit
in dem aͤlteſten Syſtem des Aberglaubens zu
finden, iſt der damit verbundene Glaube an die
Unſterblichkeit der Seele, der nicht bloße Wahr-
ſcheinlichkeit war, durch langes Nachdenken all-
maͤhlig gefunden, oder ferne Dichtung von einer
unbeſtimmten Schattenwelt, ſondern feſte und
klare Gewißheit, ſo daß der Gedanke des andern
Lebens herrſchender Beſtimmungsgrund aller
Handlungen in dieſem ward. Ziel und Seele
der ganzen Verfaſſung, aller Geſetze und Ein-
richtungen, bis auf die geringſten Gebraͤuche.

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[103/0122] tend, durch das ganze Syſtem ihrer Denkart und ihres Lebens fort hinſchleicht; wir koͤnnen, ſage ich, den alten Indiern die Erkenntniß des wahren Gottes nicht fuͤglich abſprechen, da alle ihre alten Schriften voll ſind von Spruͤchen und Ausdruͤcken, die ſo wuͤrdig, klar, und er- haben, ſo tiefſinnig und ſorgfaͤltig unterſcheidend und bedeutend ſind, als menſchliche Sprache nur uͤberhaupt von Gott zu reden vermag. Wie kommt nun ſo hohe Weisheit zuſammen mit der Fuͤlle des Irrthums? Was aber noch mehr Erſtaunen erregen muß, als die reinſten Begriffe von der Gottheit in dem aͤlteſten Syſtem des Aberglaubens zu finden, iſt der damit verbundene Glaube an die Unſterblichkeit der Seele, der nicht bloße Wahr- ſcheinlichkeit war, durch langes Nachdenken all- maͤhlig gefunden, oder ferne Dichtung von einer unbeſtimmten Schattenwelt, ſondern feſte und klare Gewißheit, ſo daß der Gedanke des andern Lebens herrſchender Beſtimmungsgrund aller Handlungen in dieſem ward. Ziel und Seele der ganzen Verfaſſung, aller Geſetze und Ein- richtungen, bis auf die geringſten Gebraͤuche.

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Zitationshilfe: Schlegel, Friedrich von: Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Heidelberg, 1808, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_indier_1808/122>, abgerufen am 01.05.2024.