Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 2. Berlin, 1799.Reinhold. Das gebe ich Jhnen, wo nicht für Raphael, doch für dieses Bild von ihm zu. Louise. Liegt es nicht darin: daß die Gestalten so einzeln dastehn, jede für sich geltend? Das Auge ruht dazwischen aus, und hat nichts zu sondern, nichts konvenzionelles sich klar zu machen. Und doch sind sie innig verbunden, selbst für den ersten augenblicklichen Eindruck: denn sagt, wer würde sich nicht gern neben diesen Knieenden vor der hohen Jungfrau niederwerfen? Reinhold. Fahren Sie nur fort, Louise; in der Andacht vereinigen wir uns gern mit Jhnen, es kann sie doch ein jeder nach seiner Weise haben. Louise. Eine Göttin kann ich die Maria nicht nennen. Das Kind, was sie trägt, ist ein Gott, denn so hat noch niemals ein Kind ausgesehn. Sie hingegen ist nur das Höchste von menschlicher Bildung, und nimmt ihre Verklärung daher, daß sie den Sohn so still, so ohne sichtbare Regung von Entzücken oder Selbstgefühl auf ihren Armen hält, ohne Stolz und ohne Demuth. Es ist auch nichts ätherisches an ihr, alles gediegne feste Theile. Sie wandelt nicht unter uns, doch tritt sie schreitend auf die Wolken, und schwebt nicht in der Glorie, in die sich ihre große Gestalt hinzeichnet. Der Kopf ganz grade aus, und so die Blicke. Das Oval des Gesichtes ist oben ziemlich breit, die braunen Augen weit auseinander, die Stirn klein, das Haar schlicht gescheitelt -- aber nein, ich kann das nicht einzeln und physiognomisch deuten. Reinhold. Das gebe ich Jhnen, wo nicht fuͤr Raphael, doch fuͤr dieses Bild von ihm zu. Louise. Liegt es nicht darin: daß die Gestalten so einzeln dastehn, jede fuͤr sich geltend? Das Auge ruht dazwischen aus, und hat nichts zu sondern, nichts konvenzionelles sich klar zu machen. Und doch sind sie innig verbunden, selbst fuͤr den ersten augenblicklichen Eindruck: denn sagt, wer wuͤrde sich nicht gern neben diesen Knieenden vor der hohen Jungfrau niederwerfen? Reinhold. Fahren Sie nur fort, Louise; in der Andacht vereinigen wir uns gern mit Jhnen, es kann sie doch ein jeder nach seiner Weise haben. Louise. Eine Goͤttin kann ich die Maria nicht nennen. Das Kind, was sie traͤgt, ist ein Gott, denn so hat noch niemals ein Kind ausgesehn. Sie hingegen ist nur das Hoͤchste von menschlicher Bildung, und nimmt ihre Verklaͤrung daher, daß sie den Sohn so still, so ohne sichtbare Regung von Entzuͤcken oder Selbstgefuͤhl auf ihren Armen haͤlt, ohne Stolz und ohne Demuth. Es ist auch nichts aͤtherisches an ihr, alles gediegne feste Theile. Sie wandelt nicht unter uns, doch tritt sie schreitend auf die Wolken, und schwebt nicht in der Glorie, in die sich ihre große Gestalt hinzeichnet. Der Kopf ganz grade aus, und so die Blicke. Das Oval des Gesichtes ist oben ziemlich breit, die braunen Augen weit auseinander, die Stirn klein, das Haar schlicht gescheitelt — aber nein, ich kann das nicht einzeln und physiognomisch deuten. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0134" n="126"/> <p><hi rendition="#g">Reinhold</hi>. Das gebe ich Jhnen, wo nicht fuͤr Raphael, doch fuͤr dieses Bild von ihm zu.</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Louise</hi>. Liegt es nicht darin: daß die Gestalten so einzeln dastehn, jede fuͤr sich geltend? Das Auge ruht dazwischen aus, und hat nichts zu sondern, nichts konvenzionelles sich klar zu machen. Und doch sind sie innig verbunden, selbst fuͤr den ersten augenblicklichen Eindruck: denn sagt, wer wuͤrde sich nicht gern neben diesen Knieenden vor der hohen Jungfrau niederwerfen?</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Reinhold</hi>. Fahren Sie nur fort, Louise; in der Andacht vereinigen wir uns gern mit Jhnen, es kann sie doch ein jeder nach seiner Weise haben.</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Louise</hi>. Eine Goͤttin kann ich die Maria nicht nennen. Das Kind, was sie traͤgt, ist ein Gott, denn so hat noch niemals ein Kind ausgesehn. Sie hingegen ist nur das Hoͤchste von menschlicher Bildung, und nimmt ihre Verklaͤrung daher, daß sie den Sohn so still, so ohne sichtbare Regung von Entzuͤcken oder Selbstgefuͤhl auf ihren Armen haͤlt, ohne Stolz und ohne Demuth. Es ist auch nichts aͤtherisches an ihr, alles gediegne feste Theile. Sie wandelt nicht unter uns, doch tritt sie schreitend auf die Wolken, und schwebt nicht in der Glorie, in die sich ihre große Gestalt hinzeichnet. Der Kopf ganz grade aus, und so die Blicke. Das Oval des Gesichtes ist oben ziemlich breit, die braunen Augen weit auseinander, die Stirn klein, das Haar schlicht gescheitelt — aber nein, ich kann das nicht einzeln und physiognomisch deuten.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [126/0134]
Reinhold. Das gebe ich Jhnen, wo nicht fuͤr Raphael, doch fuͤr dieses Bild von ihm zu.
Louise. Liegt es nicht darin: daß die Gestalten so einzeln dastehn, jede fuͤr sich geltend? Das Auge ruht dazwischen aus, und hat nichts zu sondern, nichts konvenzionelles sich klar zu machen. Und doch sind sie innig verbunden, selbst fuͤr den ersten augenblicklichen Eindruck: denn sagt, wer wuͤrde sich nicht gern neben diesen Knieenden vor der hohen Jungfrau niederwerfen?
Reinhold. Fahren Sie nur fort, Louise; in der Andacht vereinigen wir uns gern mit Jhnen, es kann sie doch ein jeder nach seiner Weise haben.
Louise. Eine Goͤttin kann ich die Maria nicht nennen. Das Kind, was sie traͤgt, ist ein Gott, denn so hat noch niemals ein Kind ausgesehn. Sie hingegen ist nur das Hoͤchste von menschlicher Bildung, und nimmt ihre Verklaͤrung daher, daß sie den Sohn so still, so ohne sichtbare Regung von Entzuͤcken oder Selbstgefuͤhl auf ihren Armen haͤlt, ohne Stolz und ohne Demuth. Es ist auch nichts aͤtherisches an ihr, alles gediegne feste Theile. Sie wandelt nicht unter uns, doch tritt sie schreitend auf die Wolken, und schwebt nicht in der Glorie, in die sich ihre große Gestalt hinzeichnet. Der Kopf ganz grade aus, und so die Blicke. Das Oval des Gesichtes ist oben ziemlich breit, die braunen Augen weit auseinander, die Stirn klein, das Haar schlicht gescheitelt — aber nein, ich kann das nicht einzeln und physiognomisch deuten.
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