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Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.

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gelten lassen, wenn ein Dichter seine wirkliche Geliebte besingt. Das Porträt ist die Grundlage und der Prüfstein des historischen Gemähldes.



Neuerdings ist die unerwartete Entdeckung gemacht worden, in der Gruppe des Laokoon sey der Held sterbend vorgestellt, und zwar an einem Schlagflusse. Weiter läßt sich nun die Kennerschaft in dieser Richtung nicht treiben, es müßte uns denn jemand belehren, Laokoon sey wirklich schon todt, welches auch in Rücksicht auf den Kenner seine vollkommene Richtigkeit haben würde. Bey Gelegenheit werden Lessing und Winkelmann zurechtgewiesen: nicht Schönheit, wie jener behauptet, (eigentlich beyde und mit ihnen Mengs) noch stille Größe und edle Einfalt, wie dieser, sey das Grundgesetz der Griechischen Kunst gewesen, sondern Wahrheit der Karakteristik. Karakterisiren will wohl alle menschliche Bildnerey bis auf die hölzernen Götzen der Kamtschadalen hinunter. Wenn man aber den Geist einer Sache in Einem Zuge fassen will, so nennt man nicht das, was sich von selbst versteht, und was sie mit andern gemein hat, sondern was wesentlich ihre Eigenthümlichkeit bezeichnet. Karakterlose Schönheit läßt sich nicht denken: sie wird, wenn auch keinen ethischen, doch allezeit einen physischen Karakter haben, d. h. die Schönheit eines gewissen Alters und Geschlechts seyn, oder bestimmte körperliche Gewöhnungen verrathen, wie die Körper der Ringer. Die alte Kunst hat nicht nur ihre unter Anleitung der Mythologie erschaffnen

gelten lassen, wenn ein Dichter seine wirkliche Geliebte besingt. Das Portraͤt ist die Grundlage und der Pruͤfstein des historischen Gemaͤhldes.



Neuerdings ist die unerwartete Entdeckung gemacht worden, in der Gruppe des Laokoon sey der Held sterbend vorgestellt, und zwar an einem Schlagflusse. Weiter laͤßt sich nun die Kennerschaft in dieser Richtung nicht treiben, es muͤßte uns denn jemand belehren, Laokoon sey wirklich schon todt, welches auch in Ruͤcksicht auf den Kenner seine vollkommene Richtigkeit haben wuͤrde. Bey Gelegenheit werden Lessing und Winkelmann zurechtgewiesen: nicht Schoͤnheit, wie jener behauptet, (eigentlich beyde und mit ihnen Mengs) noch stille Groͤße und edle Einfalt, wie dieser, sey das Grundgesetz der Griechischen Kunst gewesen, sondern Wahrheit der Karakteristik. Karakterisiren will wohl alle menschliche Bildnerey bis auf die hoͤlzernen Goͤtzen der Kamtschadalen hinunter. Wenn man aber den Geist einer Sache in Einem Zuge fassen will, so nennt man nicht das, was sich von selbst versteht, und was sie mit andern gemein hat, sondern was wesentlich ihre Eigenthuͤmlichkeit bezeichnet. Karakterlose Schoͤnheit laͤßt sich nicht denken: sie wird, wenn auch keinen ethischen, doch allezeit einen physischen Karakter haben, d. h. die Schoͤnheit eines gewissen Alters und Geschlechts seyn, oder bestimmte koͤrperliche Gewoͤhnungen verrathen, wie die Koͤrper der Ringer. Die alte Kunst hat nicht nur ihre unter Anleitung der Mythologie erschaffnen

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[85/0274] gelten lassen, wenn ein Dichter seine wirkliche Geliebte besingt. Das Portraͤt ist die Grundlage und der Pruͤfstein des historischen Gemaͤhldes. Neuerdings ist die unerwartete Entdeckung gemacht worden, in der Gruppe des Laokoon sey der Held sterbend vorgestellt, und zwar an einem Schlagflusse. Weiter laͤßt sich nun die Kennerschaft in dieser Richtung nicht treiben, es muͤßte uns denn jemand belehren, Laokoon sey wirklich schon todt, welches auch in Ruͤcksicht auf den Kenner seine vollkommene Richtigkeit haben wuͤrde. Bey Gelegenheit werden Lessing und Winkelmann zurechtgewiesen: nicht Schoͤnheit, wie jener behauptet, (eigentlich beyde und mit ihnen Mengs) noch stille Groͤße und edle Einfalt, wie dieser, sey das Grundgesetz der Griechischen Kunst gewesen, sondern Wahrheit der Karakteristik. Karakterisiren will wohl alle menschliche Bildnerey bis auf die hoͤlzernen Goͤtzen der Kamtschadalen hinunter. Wenn man aber den Geist einer Sache in Einem Zuge fassen will, so nennt man nicht das, was sich von selbst versteht, und was sie mit andern gemein hat, sondern was wesentlich ihre Eigenthuͤmlichkeit bezeichnet. Karakterlose Schoͤnheit laͤßt sich nicht denken: sie wird, wenn auch keinen ethischen, doch allezeit einen physischen Karakter haben, d. h. die Schoͤnheit eines gewissen Alters und Geschlechts seyn, oder bestimmte koͤrperliche Gewoͤhnungen verrathen, wie die Koͤrper der Ringer. Die alte Kunst hat nicht nur ihre unter Anleitung der Mythologie erschaffnen

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Zitationshilfe: Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_athenaeum_1798/274>, abgerufen am 29.11.2024.