Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.l'essence et le merite brillant de la Poesie: so scheints kaum möglich, die französische Poesie mit wenigen Worten besser zu karakterisiren. Aber ein Biber, der Academicien wäre, könnte wohl nicht mit vollkommnerem Unbewußtseyn das Rechte treffen. Gebildet ist ein Werk, wenn es überall scharf begränzt, innerhalb der Gränzen aber gränzenlos und unerschöpflich ist, wenn es sich selbst ganz treu, überall gleich, und doch über sich selbst erhaben ist. Das Höchste und Letzte ist, wie bey der Erziehung eines jungen Engländers, le grand tour. Es muß durch alle drey oder vier Welttheile der Menschheit gewandert seyn, nicht um die Ecken seiner Jndividualität abzuschleifen, sondern um seinen Blick zu erweitern und seinem Geist mehr Freyheit und innre Vielseitigkeit und dadurch mehr Selbständigkeit und Selbstgenugsamkeit zu geben. Die Orthodoxen unter den Kantianern suchen das Prinzip ihrer Philosophie vergeblich im Kant. Es steht in Bürgers Gedichten und lautet: "Ein Kaiserwort soll man nicht drehn noch deuteln." An genialischem Unbewußtseyn können die Philosophen, dünkt mich, den Dichtern den Rang recht wohl streitig machen. Wenn Verstand und Unverstand sich berühren, so giebt es einen elektrischen Schlag. Das nennt man Polemik. l'essence et le merite brillant de la Poesie: so scheints kaum moͤglich, die franzoͤsische Poesie mit wenigen Worten besser zu karakterisiren. Aber ein Biber, der Academicien waͤre, koͤnnte wohl nicht mit vollkommnerem Unbewußtseyn das Rechte treffen. Gebildet ist ein Werk, wenn es uͤberall scharf begraͤnzt, innerhalb der Graͤnzen aber graͤnzenlos und unerschoͤpflich ist, wenn es sich selbst ganz treu, uͤberall gleich, und doch uͤber sich selbst erhaben ist. Das Hoͤchste und Letzte ist, wie bey der Erziehung eines jungen Englaͤnders, le grand tour. Es muß durch alle drey oder vier Welttheile der Menschheit gewandert seyn, nicht um die Ecken seiner Jndividualitaͤt abzuschleifen, sondern um seinen Blick zu erweitern und seinem Geist mehr Freyheit und innre Vielseitigkeit und dadurch mehr Selbstaͤndigkeit und Selbstgenugsamkeit zu geben. Die Orthodoxen unter den Kantianern suchen das Prinzip ihrer Philosophie vergeblich im Kant. Es steht in Buͤrgers Gedichten und lautet: „Ein Kaiserwort soll man nicht drehn noch deuteln.“ An genialischem Unbewußtseyn koͤnnen die Philosophen, duͤnkt mich, den Dichtern den Rang recht wohl streitig machen. Wenn Verstand und Unverstand sich beruͤhren, so giebt es einen elektrischen Schlag. Das nennt man Polemik. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><foreign xml:lang="fr"><pb facs="#f0270" n="81"/> l'essence et le merite brillant de la Poesie</foreign>: so scheints kaum moͤglich, die franzoͤsische Poesie mit wenigen Worten besser zu karakterisiren. Aber ein Biber, der Academicien waͤre, koͤnnte wohl nicht mit vollkommnerem Unbewußtseyn das Rechte treffen.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Gebildet ist ein Werk, wenn es uͤberall scharf begraͤnzt, innerhalb der Graͤnzen aber graͤnzenlos und unerschoͤpflich ist, wenn es sich selbst ganz treu, uͤberall gleich, und doch uͤber sich selbst erhaben ist. Das Hoͤchste und Letzte ist, wie bey der Erziehung eines jungen Englaͤnders, <foreign xml:lang="fr">le grand tour</foreign>. Es muß durch alle drey oder vier Welttheile der Menschheit gewandert seyn, nicht um die Ecken seiner Jndividualitaͤt abzuschleifen, sondern um seinen Blick zu erweitern und seinem Geist mehr Freyheit und innre Vielseitigkeit und dadurch mehr Selbstaͤndigkeit und Selbstgenugsamkeit zu geben.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Die Orthodoxen unter den Kantianern suchen das Prinzip ihrer Philosophie vergeblich im Kant. Es steht in Buͤrgers Gedichten und lautet: „Ein Kaiserwort soll man nicht drehn noch deuteln.“</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>An genialischem Unbewußtseyn koͤnnen die Philosophen, duͤnkt mich, den Dichtern den Rang recht wohl streitig machen.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Wenn Verstand und Unverstand sich beruͤhren, so giebt es einen elektrischen Schlag. Das nennt man Polemik.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [81/0270]
l'essence et le merite brillant de la Poesie: so scheints kaum moͤglich, die franzoͤsische Poesie mit wenigen Worten besser zu karakterisiren. Aber ein Biber, der Academicien waͤre, koͤnnte wohl nicht mit vollkommnerem Unbewußtseyn das Rechte treffen.
Gebildet ist ein Werk, wenn es uͤberall scharf begraͤnzt, innerhalb der Graͤnzen aber graͤnzenlos und unerschoͤpflich ist, wenn es sich selbst ganz treu, uͤberall gleich, und doch uͤber sich selbst erhaben ist. Das Hoͤchste und Letzte ist, wie bey der Erziehung eines jungen Englaͤnders, le grand tour. Es muß durch alle drey oder vier Welttheile der Menschheit gewandert seyn, nicht um die Ecken seiner Jndividualitaͤt abzuschleifen, sondern um seinen Blick zu erweitern und seinem Geist mehr Freyheit und innre Vielseitigkeit und dadurch mehr Selbstaͤndigkeit und Selbstgenugsamkeit zu geben.
Die Orthodoxen unter den Kantianern suchen das Prinzip ihrer Philosophie vergeblich im Kant. Es steht in Buͤrgers Gedichten und lautet: „Ein Kaiserwort soll man nicht drehn noch deuteln.“
An genialischem Unbewußtseyn koͤnnen die Philosophen, duͤnkt mich, den Dichtern den Rang recht wohl streitig machen.
Wenn Verstand und Unverstand sich beruͤhren, so giebt es einen elektrischen Schlag. Das nennt man Polemik.
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