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Schiller, Friedrich: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (Antrittsvorlesung in Jena, 26. 5. 1789 ). Jena, 1789.

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lehrsamkeit unter ihren wüthendsten Verfolgern aufs
neue hervorbrechen, und ein Al Mamun den Wissen-
schaften den Raub vergüten, den ein Omar an ihnen
verübt hatte. Das unerträgliche Elend der Barbarey
mußte unsre Vorfahren von den blutigen Urtheilen Got-
tes zu menschlichen Richterstühlen treiben, verheerende
Seuchen die verirrte Heilkunst zur Betrachtung der Na-
tur zurückrufen, der Müßiggang der Mönche mußte
für das Böse, das ihre Werkthätigkeit schuf, von ferne
einen Ersatz zubereiten, und der profane Fleiß in den
Klöstern die zerrütteten Reste des Augustischen Weltal-
ters bis zu den Zeiten der Buchdruckerkunst hinhalten.
An griechischen und römischen Mustern mußte der nie-
dergedrückte Geist nordischer Barbaren sich aufrichten,
und die Gelehrsamkeit einen Bund mit den Musen und
Grazien schließen, wann sie einen Weg zu dem Her-
zen finden, und den Nahmen einer Menschenbilderin
sich verdienen sollte. -- Aber hätte Griechenland wohl
einen Thucydides, einen Plato, einen Aristoteles, hätte
Rom einen Horaz, einen Cicero, einen Virgil und Li-
vius gebohren, wenn diese beyden Staaten nicht zu der-
jenigen Höhe des politischen Wohlstands emporgedrun-
gen wären, welche sie wirklich erstiegen haben? Mit
einem Wort -- wenn nicht ihre ganze Geschichte vor-
hergegangen wäre? Wie viele Erfindungen, Entdeckun-
gen, Staats- und Kirchenrevolutionen mußten zusam-
mentreffen
, diesen neuen, noch zarten Keimen von Wis-
senschaft und Kunst, Wachsthum und Ausbreitung zu
geben! Wie viele Kriege mußten geführt, wie viele

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lehrſamkeit unter ihren wuͤthendſten Verfolgern aufs
neue hervorbrechen, und ein Al Mamun den Wiſſen-
ſchaften den Raub verguͤten, den ein Omar an ihnen
veruͤbt hatte. Das unertraͤgliche Elend der Barbarey
mußte unſre Vorfahren von den blutigen Urtheilen Got-
tes zu menſchlichen Richterſtuͤhlen treiben, verheerende
Seuchen die verirrte Heilkunſt zur Betrachtung der Na-
tur zuruͤckrufen, der Muͤßiggang der Moͤnche mußte
fuͤr das Boͤſe, das ihre Werkthaͤtigkeit ſchuf, von ferne
einen Erſatz zubereiten, und der profane Fleiß in den
Kloͤſtern die zerruͤtteten Reſte des Auguſtiſchen Weltal-
ters bis zu den Zeiten der Buchdruckerkunſt hinhalten.
An griechiſchen und roͤmiſchen Muſtern mußte der nie-
dergedruͤckte Geiſt nordiſcher Barbaren ſich aufrichten,
und die Gelehrſamkeit einen Bund mit den Muſen und
Grazien ſchließen, wann ſie einen Weg zu dem Her-
zen finden, und den Nahmen einer Menſchenbilderin
ſich verdienen ſollte. — Aber haͤtte Griechenland wohl
einen Thucydides, einen Plato, einen Ariſtoteles, haͤtte
Rom einen Horaz, einen Cicero, einen Virgil und Li-
vius gebohren, wenn dieſe beyden Staaten nicht zu der-
jenigen Hoͤhe des politiſchen Wohlſtands emporgedrun-
gen waͤren, welche ſie wirklich erſtiegen haben? Mit
einem Wort — wenn nicht ihre ganze Geſchichte vor-
hergegangen waͤre? Wie viele Erfindungen, Entdeckun-
gen, Staats- und Kirchenrevolutionen mußten zuſam-
mentreffen
, dieſen neuen, noch zarten Keimen von Wiſ-
ſenſchaft und Kunſt, Wachsthum und Ausbreitung zu
geben! Wie viele Kriege mußten gefuͤhrt, wie viele

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[21/0023] lehrſamkeit unter ihren wuͤthendſten Verfolgern aufs neue hervorbrechen, und ein Al Mamun den Wiſſen- ſchaften den Raub verguͤten, den ein Omar an ihnen veruͤbt hatte. Das unertraͤgliche Elend der Barbarey mußte unſre Vorfahren von den blutigen Urtheilen Got- tes zu menſchlichen Richterſtuͤhlen treiben, verheerende Seuchen die verirrte Heilkunſt zur Betrachtung der Na- tur zuruͤckrufen, der Muͤßiggang der Moͤnche mußte fuͤr das Boͤſe, das ihre Werkthaͤtigkeit ſchuf, von ferne einen Erſatz zubereiten, und der profane Fleiß in den Kloͤſtern die zerruͤtteten Reſte des Auguſtiſchen Weltal- ters bis zu den Zeiten der Buchdruckerkunſt hinhalten. An griechiſchen und roͤmiſchen Muſtern mußte der nie- dergedruͤckte Geiſt nordiſcher Barbaren ſich aufrichten, und die Gelehrſamkeit einen Bund mit den Muſen und Grazien ſchließen, wann ſie einen Weg zu dem Her- zen finden, und den Nahmen einer Menſchenbilderin ſich verdienen ſollte. — Aber haͤtte Griechenland wohl einen Thucydides, einen Plato, einen Ariſtoteles, haͤtte Rom einen Horaz, einen Cicero, einen Virgil und Li- vius gebohren, wenn dieſe beyden Staaten nicht zu der- jenigen Hoͤhe des politiſchen Wohlſtands emporgedrun- gen waͤren, welche ſie wirklich erſtiegen haben? Mit einem Wort — wenn nicht ihre ganze Geſchichte vor- hergegangen waͤre? Wie viele Erfindungen, Entdeckun- gen, Staats- und Kirchenrevolutionen mußten zuſam- mentreffen, dieſen neuen, noch zarten Keimen von Wiſ- ſenſchaft und Kunſt, Wachsthum und Ausbreitung zu geben! Wie viele Kriege mußten gefuͤhrt, wie viele Buͤnd- B 3

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (Antrittsvorlesung in Jena, 26. 5. 1789 ). Jena, 1789, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_universalgeschichte_1789/23>, abgerufen am 23.11.2024.