Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.

Bild:
<< vorherige Seite

te, seine Meisterstücke sogar nicht ausgenommen, so habe
ich nichts darauf zu antworten. Der Ausspruch selbst ist
nichts weniger als neu, und ich gebe hier nur die Grün-
de von einem Urtheil an, welches längst schon von jedem
feineren Gefühle über diese Gegenstände gefällt worden ist.
Eben diese Principien aber, welche in Rücksicht auf jene
Schriften vielleicht allzu rigoristisch scheinen, möchten in
Rücksicht auf einige andere Werke vielleicht zu liberal be-
funden werden; denn ich läugne nicht, daß die nehmli-
chen Gründe, aus welchen ich die verführerischen Ge-
mählde des römischen und deutschen Ovid, so
wie eines Crebillon, Voltaire, Marmontels
(der sich einen moralischen Erzähler nennt) Laclos und
vieler andern, einer Entschuldigung durchaus für unfä-
hig halte, mich mit den Elegien des römischen und
deutschen Properz, ja selbst mit manchem verschrie-
nen Produkt des Diderot versöhnen; denn jene sind
nur witzig, nur prosaisch, nur lüstern, diese sind poetisch,
menschlich und naiv. *

* Wenn ich den unsterblichen Verfasser des Agathon, Obe-
ron etc. in dieser Gesellschaft nenne, so muß ich ausdrücklich
erklären, daß ich ihn keineswegs mit derselben verwechselt
haben will. Seine Schilderungen, auch die bedenklichsten
von dieser Seite, haben keine materielle Tendenz (wie sich
ein neuerer etwas unbesonnener Critiker vor kurzem zu sagen
erlaubte) der Verfasser von Liebe um Liebe und von so vie-
len andern naiven und genialischen Werken, in welchen al-
len sich eine schöne und edle Seele mit unverkennbaren Zü-
gen abbildet, kann eine solche Tendenz gar nicht haben. Aber
er scheint mir von dem ganz eigenen Unglück verfolgt zu

te, ſeine Meiſterſtuͤcke ſogar nicht ausgenommen, ſo habe
ich nichts darauf zu antworten. Der Ausſpruch ſelbſt iſt
nichts weniger als neu, und ich gebe hier nur die Gruͤn-
de von einem Urtheil an, welches laͤngſt ſchon von jedem
feineren Gefuͤhle uͤber dieſe Gegenſtaͤnde gefaͤllt worden iſt.
Eben dieſe Principien aber, welche in Ruͤckſicht auf jene
Schriften vielleicht allzu rigoriſtiſch ſcheinen, moͤchten in
Ruͤckſicht auf einige andere Werke vielleicht zu liberal be-
funden werden; denn ich laͤugne nicht, daß die nehmli-
chen Gruͤnde, aus welchen ich die verfuͤhreriſchen Ge-
maͤhlde des roͤmiſchen und deutſchen Ovid, ſo
wie eines Crebillon, Voltaire, Marmontels
(der ſich einen moraliſchen Erzaͤhler nennt) Laclos und
vieler andern, einer Entſchuldigung durchaus fuͤr unfaͤ-
hig halte, mich mit den Elegien des roͤmiſchen und
deutſchen Properz, ja ſelbſt mit manchem verſchrie-
nen Produkt des Diderot verſoͤhnen; denn jene ſind
nur witzig, nur proſaiſch, nur luͤſtern, dieſe ſind poetiſch,
menſchlich und naiv. *

* Wenn ich den unſterblichen Verfaſſer des Agathon, Obe-
ron ꝛc. in dieſer Geſellſchaft nenne, ſo muß ich ausdruͤcklich
erklaͤren, daß ich ihn keineswegs mit derſelben verwechſelt
haben will. Seine Schilderungen, auch die bedenklichſten
von dieſer Seite, haben keine materielle Tendenz (wie ſich
ein neuerer etwas unbeſonnener Critiker vor kurzem zu ſagen
erlaubte) der Verfaſſer von Liebe um Liebe und von ſo vie-
len andern naiven und genialiſchen Werken, in welchen al-
len ſich eine ſchoͤne und edle Seele mit unverkennbaren Zuͤ-
gen abbildet, kann eine ſolche Tendenz gar nicht haben. Aber
er ſcheint mir von dem ganz eigenen Ungluͤck verfolgt zu
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0051" n="44"/>
te, &#x017F;eine Mei&#x017F;ter&#x017F;tu&#x0364;cke &#x017F;ogar nicht ausgenommen, &#x017F;o habe<lb/>
ich nichts darauf zu antworten. Der Aus&#x017F;pruch &#x017F;elb&#x017F;t i&#x017F;t<lb/>
nichts weniger als neu, und ich gebe hier nur die Gru&#x0364;n-<lb/>
de von einem Urtheil an, welches la&#x0364;ng&#x017F;t &#x017F;chon von jedem<lb/>
feineren Gefu&#x0364;hle u&#x0364;ber die&#x017F;e Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde gefa&#x0364;llt worden i&#x017F;t.<lb/>
Eben die&#x017F;e Principien aber, welche in Ru&#x0364;ck&#x017F;icht auf jene<lb/>
Schriften vielleicht allzu rigori&#x017F;ti&#x017F;ch &#x017F;cheinen, mo&#x0364;chten in<lb/>
Ru&#x0364;ck&#x017F;icht auf einige andere Werke vielleicht zu liberal be-<lb/>
funden werden; denn ich la&#x0364;ugne nicht, daß die nehmli-<lb/>
chen Gru&#x0364;nde, aus welchen ich die verfu&#x0364;hreri&#x017F;chen Ge-<lb/>
ma&#x0364;hlde des <hi rendition="#g">ro&#x0364;mi&#x017F;chen</hi> und <hi rendition="#g">deut&#x017F;chen Ovid</hi>, &#x017F;o<lb/>
wie eines <hi rendition="#g">Crebillon, Voltaire, Marmontels</hi><lb/>
(der &#x017F;ich einen morali&#x017F;chen Erza&#x0364;hler nennt) <hi rendition="#g">Laclos</hi> und<lb/>
vieler andern, einer Ent&#x017F;chuldigung durchaus fu&#x0364;r unfa&#x0364;-<lb/>
hig halte, mich mit den Elegien des <hi rendition="#g">ro&#x0364;mi&#x017F;chen</hi> und<lb/><hi rendition="#g">deut&#x017F;chen Properz</hi>, ja &#x017F;elb&#x017F;t mit manchem ver&#x017F;chrie-<lb/>
nen Produkt des <hi rendition="#g">Diderot</hi> ver&#x017F;o&#x0364;hnen; denn jene &#x017F;ind<lb/>
nur witzig, nur pro&#x017F;ai&#x017F;ch, nur lu&#x0364;&#x017F;tern, die&#x017F;e &#x017F;ind poeti&#x017F;ch,<lb/>
men&#x017F;chlich und naiv. <note xml:id="seg2pn_5_1" next="#seg2pn_5_2" place="foot" n="*">Wenn ich den un&#x017F;terblichen Verfa&#x017F;&#x017F;er des Agathon, Obe-<lb/>
ron &#xA75B;c. in die&#x017F;er Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft nenne, &#x017F;o muß ich ausdru&#x0364;cklich<lb/>
erkla&#x0364;ren, daß ich ihn keineswegs mit der&#x017F;elben verwech&#x017F;elt<lb/>
haben will. Seine Schilderungen, auch die bedenklich&#x017F;ten<lb/>
von die&#x017F;er Seite, haben keine materielle Tendenz (wie &#x017F;ich<lb/>
ein neuerer etwas unbe&#x017F;onnener Critiker vor kurzem zu &#x017F;agen<lb/>
erlaubte) der Verfa&#x017F;&#x017F;er von Liebe um Liebe und von &#x017F;o vie-<lb/>
len andern naiven und geniali&#x017F;chen Werken, in welchen al-<lb/>
len &#x017F;ich eine &#x017F;cho&#x0364;ne und edle Seele mit unverkennbaren Zu&#x0364;-<lb/>
gen abbildet, kann eine &#x017F;olche Tendenz gar nicht haben. Aber<lb/>
er &#x017F;cheint mir von dem ganz eigenen Unglu&#x0364;ck verfolgt zu</note></p>
        </div><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[44/0051] te, ſeine Meiſterſtuͤcke ſogar nicht ausgenommen, ſo habe ich nichts darauf zu antworten. Der Ausſpruch ſelbſt iſt nichts weniger als neu, und ich gebe hier nur die Gruͤn- de von einem Urtheil an, welches laͤngſt ſchon von jedem feineren Gefuͤhle uͤber dieſe Gegenſtaͤnde gefaͤllt worden iſt. Eben dieſe Principien aber, welche in Ruͤckſicht auf jene Schriften vielleicht allzu rigoriſtiſch ſcheinen, moͤchten in Ruͤckſicht auf einige andere Werke vielleicht zu liberal be- funden werden; denn ich laͤugne nicht, daß die nehmli- chen Gruͤnde, aus welchen ich die verfuͤhreriſchen Ge- maͤhlde des roͤmiſchen und deutſchen Ovid, ſo wie eines Crebillon, Voltaire, Marmontels (der ſich einen moraliſchen Erzaͤhler nennt) Laclos und vieler andern, einer Entſchuldigung durchaus fuͤr unfaͤ- hig halte, mich mit den Elegien des roͤmiſchen und deutſchen Properz, ja ſelbſt mit manchem verſchrie- nen Produkt des Diderot verſoͤhnen; denn jene ſind nur witzig, nur proſaiſch, nur luͤſtern, dieſe ſind poetiſch, menſchlich und naiv. * * Wenn ich den unſterblichen Verfaſſer des Agathon, Obe- ron ꝛc. in dieſer Geſellſchaft nenne, ſo muß ich ausdruͤcklich erklaͤren, daß ich ihn keineswegs mit derſelben verwechſelt haben will. Seine Schilderungen, auch die bedenklichſten von dieſer Seite, haben keine materielle Tendenz (wie ſich ein neuerer etwas unbeſonnener Critiker vor kurzem zu ſagen erlaubte) der Verfaſſer von Liebe um Liebe und von ſo vie- len andern naiven und genialiſchen Werken, in welchen al- len ſich eine ſchoͤne und edle Seele mit unverkennbaren Zuͤ- gen abbildet, kann eine ſolche Tendenz gar nicht haben. Aber er ſcheint mir von dem ganz eigenen Ungluͤck verfolgt zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive02_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive02_1795/51
Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55, hier S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive02_1795/51>, abgerufen am 22.11.2024.