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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.

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und schön und erhaben menschlich ist, empor zu tragen
wissen.

Und so hätten wir denn den Maaßstab gefunden, dem
wir jeden Dichter, der sich etwas gegen den Anstand her-
ausnimmt, und seine Freyheit in Darstellung der Natur
biß zu dieser Grenze treibt mit Sicherheit unterwerfen
können. Sein Produkt ist gemein, niedrig, ohne alle
Ausnahme verwerflich, sobald es kalt und sobald es leer
ist, weil dieses einen Ursprung aus Absicht und aus einem
gemeinen Bedürfniß und einen heillosen Anschlag auf un-
sre Begierden beweißt. Es ist hingegen schön, edel, und
ohne Rücksicht auf alle Einwendungen einer frostigen De-
cenz Beyfallswürdig, sobald es naiv ist, und Geist mit
Herz verbindet. *

Wenn man mir sagt, daß unter dem hier gegebenen
Maaßstab die meisten französischen Erzählungen in dieser
Gattung, und die glücklichsten Nachahmungen derselben
in Deutschland nicht zum besten bestehen möchten -- daß
dieses zum Theil auch der Fall mit manchen Produkten
unsers anmuthigsten und geistreichsten Dichters seyn dürf-

* Mit Herz; denn die bloß sinnliche Glut des Gemähldes und
die üppige Fülle der Einbildungskraft machen es noch lange
nicht aus. Daher bleibt Ardinghello bey aller sinnlichen
Energie und allem Feuer des Kolorits immer nur eine sinn-
liche Karrikatur, ohne Wahrheit und ohne ästhetische Wür-
de. Doch wird diese seltsame Produktion immer als ein
Beyspiel des beynahe poetischen Schwungs, den die bloße
Begier
zu nehmen fähig war, merkwürdig bleiben.

und ſchoͤn und erhaben menſchlich iſt, empor zu tragen
wiſſen.

Und ſo haͤtten wir denn den Maaßſtab gefunden, dem
wir jeden Dichter, der ſich etwas gegen den Anſtand her-
ausnimmt, und ſeine Freyheit in Darſtellung der Natur
biß zu dieſer Grenze treibt mit Sicherheit unterwerfen
koͤnnen. Sein Produkt iſt gemein, niedrig, ohne alle
Ausnahme verwerflich, ſobald es kalt und ſobald es leer
iſt, weil dieſes einen Urſprung aus Abſicht und aus einem
gemeinen Beduͤrfniß und einen heilloſen Anſchlag auf un-
ſre Begierden beweißt. Es iſt hingegen ſchoͤn, edel, und
ohne Ruͤckſicht auf alle Einwendungen einer froſtigen De-
cenz Beyfallswuͤrdig, ſobald es naiv iſt, und Geiſt mit
Herz verbindet. *

Wenn man mir ſagt, daß unter dem hier gegebenen
Maaßſtab die meiſten franzoͤſiſchen Erzaͤhlungen in dieſer
Gattung, und die gluͤcklichſten Nachahmungen derſelben
in Deutſchland nicht zum beſten beſtehen moͤchten — daß
dieſes zum Theil auch der Fall mit manchen Produkten
unſers anmuthigſten und geiſtreichſten Dichters ſeyn duͤrf-

* Mit Herz; denn die bloß ſinnliche Glut des Gemaͤhldes und
die uͤppige Fuͤlle der Einbildungskraft machen es noch lange
nicht aus. Daher bleibt Ardinghello bey aller ſinnlichen
Energie und allem Feuer des Kolorits immer nur eine ſinn-
liche Karrikatur, ohne Wahrheit und ohne aͤſthetiſche Wuͤr-
de. Doch wird dieſe ſeltſame Produktion immer als ein
Beyſpiel des beynahe poetiſchen Schwungs, den die bloße
Begier
zu nehmen faͤhig war, merkwuͤrdig bleiben.
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[43/0050] und ſchoͤn und erhaben menſchlich iſt, empor zu tragen wiſſen. Und ſo haͤtten wir denn den Maaßſtab gefunden, dem wir jeden Dichter, der ſich etwas gegen den Anſtand her- ausnimmt, und ſeine Freyheit in Darſtellung der Natur biß zu dieſer Grenze treibt mit Sicherheit unterwerfen koͤnnen. Sein Produkt iſt gemein, niedrig, ohne alle Ausnahme verwerflich, ſobald es kalt und ſobald es leer iſt, weil dieſes einen Urſprung aus Abſicht und aus einem gemeinen Beduͤrfniß und einen heilloſen Anſchlag auf un- ſre Begierden beweißt. Es iſt hingegen ſchoͤn, edel, und ohne Ruͤckſicht auf alle Einwendungen einer froſtigen De- cenz Beyfallswuͤrdig, ſobald es naiv iſt, und Geiſt mit Herz verbindet. * Wenn man mir ſagt, daß unter dem hier gegebenen Maaßſtab die meiſten franzoͤſiſchen Erzaͤhlungen in dieſer Gattung, und die gluͤcklichſten Nachahmungen derſelben in Deutſchland nicht zum beſten beſtehen moͤchten — daß dieſes zum Theil auch der Fall mit manchen Produkten unſers anmuthigſten und geiſtreichſten Dichters ſeyn duͤrf- * Mit Herz; denn die bloß ſinnliche Glut des Gemaͤhldes und die uͤppige Fuͤlle der Einbildungskraft machen es noch lange nicht aus. Daher bleibt Ardinghello bey aller ſinnlichen Energie und allem Feuer des Kolorits immer nur eine ſinn- liche Karrikatur, ohne Wahrheit und ohne aͤſthetiſche Wuͤr- de. Doch wird dieſe ſeltſame Produktion immer als ein Beyſpiel des beynahe poetiſchen Schwungs, den die bloße Begier zu nehmen faͤhig war, merkwuͤrdig bleiben.

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55, hier S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive02_1795/50>, abgerufen am 28.03.2024.