Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.seyn; alle Verstellung, alle List, alle Willkühr, alle klein- Fürs zweyte: nur die schöne Natur kann derglei- ſeyn; alle Verſtellung, alle Liſt, alle Willkuͤhr, alle klein- Fuͤrs zweyte: nur die ſchoͤne Natur kann derglei- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0049" n="42"/> ſeyn; alle Verſtellung, alle Liſt, alle Willkuͤhr, alle klein-<lb/> liche Selbſtſucht muß aus ſeinem Charakter, alle Spu-<lb/> ren davon aus ſeinem Werke verbannt ſeyn.</p><lb/> <p>Fuͤrs zweyte: nur die <hi rendition="#g">ſchoͤne</hi> Natur kann derglei-<lb/> chen Freyheiten rechtfertigen. Sie duͤrfen mithin kein ein-<lb/> ſeitiger Ausbruch der Begierde ſeyn, denn alles, was aus<lb/> bloßer Beduͤrftigkeit entſpringt, iſt veraͤchtlich. Aus dem<lb/> Ganzen und aus der Fuͤlle menſchlicher Natur muͤſſen auch<lb/> dieſe ſinnlichen Energien hervorgehen. Sie muͤſſen <hi rendition="#g">Hu-<lb/> manitaͤt</hi> ſeyn. Um aber beurtheilen zu koͤnnen, daß<lb/> das Ganze menſchlicher Natur, und nicht bloß ein ein-<lb/> ſeitiges und gemeines Beduͤrfniß der Sinnlichkeit ſie fo-<lb/> dert, muͤſſen wir das Ganze, von dem ſie einen einzelnen<lb/> Zug ausmachen, dargeſtellt ſehen. An ſich ſelbſt iſt die<lb/> ſinnliche Empfindungsweiſe etwas unſchuldiges und gleich-<lb/> guͤltiges. Sie mißfaͤllt uns nur darum an einem Men-<lb/> ſchen, weil ſie thieriſch iſt, und von einem Mangel wah-<lb/> rer vollkommener Menſchheit in ihm zeuget: ſie beleidigt<lb/> uns nur darum an einem Dichterwerk, weil ein ſolches<lb/> Werk Anſpruch macht, uns zu gefallen, mithin auch <hi rendition="#g">uns</hi><lb/> eines ſolchen Mangels faͤhig haͤlt. Sehen wir aber in<lb/> dem Menſchen, der ſich dabey uͤberraſchen laͤßt, die Menſch-<lb/> heit in ihrem ganzen uͤbrigen Umfange wirken; finden<lb/> wir in dem Werke, worinn man ſich Freyheiten dieſer Art<lb/> genommen, alle Realitaͤten der Menſchheit ausgedruͤckt,<lb/> ſo iſt jener Grund unſers Mißfallens weggeraͤumt, und<lb/> wir koͤnnen uns mit unvergaͤllter Freude an dem naiven<lb/> Ausdruck wahrer und ſchoͤner Natur ergoͤtzen. Derſelbe<lb/> Dichter alſo, der ſich erlauben darf, uns zu Theilneh-<lb/> mern ſo niedrig menſchlicher Gefuͤhle zu machen, muß<lb/> uns auf der andern Seite wieder zu allem, was groß<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [42/0049]
ſeyn; alle Verſtellung, alle Liſt, alle Willkuͤhr, alle klein-
liche Selbſtſucht muß aus ſeinem Charakter, alle Spu-
ren davon aus ſeinem Werke verbannt ſeyn.
Fuͤrs zweyte: nur die ſchoͤne Natur kann derglei-
chen Freyheiten rechtfertigen. Sie duͤrfen mithin kein ein-
ſeitiger Ausbruch der Begierde ſeyn, denn alles, was aus
bloßer Beduͤrftigkeit entſpringt, iſt veraͤchtlich. Aus dem
Ganzen und aus der Fuͤlle menſchlicher Natur muͤſſen auch
dieſe ſinnlichen Energien hervorgehen. Sie muͤſſen Hu-
manitaͤt ſeyn. Um aber beurtheilen zu koͤnnen, daß
das Ganze menſchlicher Natur, und nicht bloß ein ein-
ſeitiges und gemeines Beduͤrfniß der Sinnlichkeit ſie fo-
dert, muͤſſen wir das Ganze, von dem ſie einen einzelnen
Zug ausmachen, dargeſtellt ſehen. An ſich ſelbſt iſt die
ſinnliche Empfindungsweiſe etwas unſchuldiges und gleich-
guͤltiges. Sie mißfaͤllt uns nur darum an einem Men-
ſchen, weil ſie thieriſch iſt, und von einem Mangel wah-
rer vollkommener Menſchheit in ihm zeuget: ſie beleidigt
uns nur darum an einem Dichterwerk, weil ein ſolches
Werk Anſpruch macht, uns zu gefallen, mithin auch uns
eines ſolchen Mangels faͤhig haͤlt. Sehen wir aber in
dem Menſchen, der ſich dabey uͤberraſchen laͤßt, die Menſch-
heit in ihrem ganzen uͤbrigen Umfange wirken; finden
wir in dem Werke, worinn man ſich Freyheiten dieſer Art
genommen, alle Realitaͤten der Menſchheit ausgedruͤckt,
ſo iſt jener Grund unſers Mißfallens weggeraͤumt, und
wir koͤnnen uns mit unvergaͤllter Freude an dem naiven
Ausdruck wahrer und ſchoͤner Natur ergoͤtzen. Derſelbe
Dichter alſo, der ſich erlauben darf, uns zu Theilneh-
mern ſo niedrig menſchlicher Gefuͤhle zu machen, muß
uns auf der andern Seite wieder zu allem, was groß
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