Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.

Bild:
<< vorherige Seite

zählung dieses Vorfalls, seine eigene Verwunderung,
seine Rührung nicht verbergen. Das Gefühl des Ab-
standes jener Sitten von denjenigen, die Sein Zeitalter
charakterisieren, überwältigt ihn. Er verläßt auf einmal
das Gemählde des Gegenstandes und erscheint in eigener
Person: Man kennt die schöne Stanze und hat sie immer
vorzüglich bewundert:

O Edelmuth der alten Rittersitten!
Die Nebenbuler waren, die entzweyt
Im Glauben waren, bittern Schmerz noch litten
Am ganzen Leib von feindlich wilden Streit,
Frey von Verdacht und in Gemeinschaft ritten
Sie durch des krummen Pfades Dunkelheit.
Das Roß, getrieben von vier Sporen, eilte
Biß wo der Weg sich in zwey Straßen theilte.*

Und nun der alte Homer! Kaum erfährt Diomed aus
Glaukus seines Gegners Erzählung, daß dieser von Vä-
terzeiten her ein Gastfreund seines Geschlechts ist, so steckt
er die Lanze in die Erde, redet freundlich mit ihm, und
macht mit ihm aus, daß sie einander im Gefechte künftig
ausweichen wollen. Doch man höre den Homer selbst:

"Also bin ich nunmehr dein Gastfreund mitten in Argos,
Du in Lykia mir, wenn jenes Land ich besuche.
Drum mit unseren Lanzen vermeiden wir uns im Ge-
tümmel.
Viel ja sind der Troer mir selbst und der rühmlichen
Helfer,
* Der rasende Roland. Erster Gesang. Stanze 32.

zaͤhlung dieſes Vorfalls, ſeine eigene Verwunderung,
ſeine Ruͤhrung nicht verbergen. Das Gefuͤhl des Ab-
ſtandes jener Sitten von denjenigen, die Sein Zeitalter
charakteriſieren, uͤberwaͤltigt ihn. Er verlaͤßt auf einmal
das Gemaͤhlde des Gegenſtandes und erſcheint in eigener
Perſon: Man kennt die ſchoͤne Stanze und hat ſie immer
vorzuͤglich bewundert:

O Edelmuth der alten Ritterſitten!
Die Nebenbuler waren, die entzweyt
Im Glauben waren, bittern Schmerz noch litten
Am ganzen Leib von feindlich wilden Streit,
Frey von Verdacht und in Gemeinſchaft ritten
Sie durch des krummen Pfades Dunkelheit.
Das Roß, getrieben von vier Sporen, eilte
Biß wo der Weg ſich in zwey Straßen theilte.*

Und nun der alte Homer! Kaum erfaͤhrt Diomed aus
Glaukus ſeines Gegners Erzaͤhlung, daß dieſer von Vaͤ-
terzeiten her ein Gaſtfreund ſeines Geſchlechts iſt, ſo ſteckt
er die Lanze in die Erde, redet freundlich mit ihm, und
macht mit ihm aus, daß ſie einander im Gefechte kuͤnftig
ausweichen wollen. Doch man hoͤre den Homer ſelbſt:

„Alſo bin ich nunmehr dein Gaſtfreund mitten in Argos,
Du in Lykia mir, wenn jenes Land ich beſuche.
Drum mit unſeren Lanzen vermeiden wir uns im Ge-
tuͤmmel.
Viel ja ſind der Troer mir ſelbſt und der ruͤhmlichen
Helfer,
* Der raſende Roland. Erſter Geſang. Stanze 32.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0042" n="74"/>
za&#x0364;hlung die&#x017F;es Vorfalls, &#x017F;eine eigene Verwunderung,<lb/>
&#x017F;eine Ru&#x0364;hrung nicht verbergen. Das Gefu&#x0364;hl des Ab-<lb/>
&#x017F;tandes jener Sitten von denjenigen, die Sein Zeitalter<lb/>
charakteri&#x017F;ieren, u&#x0364;berwa&#x0364;ltigt ihn. Er verla&#x0364;ßt auf einmal<lb/>
das Gema&#x0364;hlde des Gegen&#x017F;tandes und er&#x017F;cheint in eigener<lb/>
Per&#x017F;on: Man kennt die &#x017F;cho&#x0364;ne Stanze und hat &#x017F;ie immer<lb/>
vorzu&#x0364;glich bewundert:</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>O Edelmuth der alten Ritter&#x017F;itten!</l><lb/>
          <l>Die Nebenbuler waren, die entzweyt</l><lb/>
          <l>Im Glauben waren, bittern Schmerz noch litten</l><lb/>
          <l>Am ganzen Leib von feindlich wilden Streit,</l><lb/>
          <l>Frey von Verdacht und in Gemein&#x017F;chaft ritten</l><lb/>
          <l>Sie durch des krummen Pfades Dunkelheit.</l><lb/>
          <l>Das Roß, getrieben von vier Sporen, eilte</l><lb/>
          <l>Biß wo der Weg &#x017F;ich in zwey Straßen theilte.<note place="foot" n="*">Der ra&#x017F;ende Roland. Er&#x017F;ter Ge&#x017F;ang. Stanze 32.</note></l>
        </lg><lb/>
        <p>Und nun der alte Homer! Kaum erfa&#x0364;hrt Diomed aus<lb/>
Glaukus &#x017F;eines Gegners Erza&#x0364;hlung, daß die&#x017F;er von Va&#x0364;-<lb/>
terzeiten her ein Ga&#x017F;tfreund &#x017F;eines Ge&#x017F;chlechts i&#x017F;t, &#x017F;o &#x017F;teckt<lb/>
er die Lanze in die Erde, redet freundlich mit ihm, und<lb/>
macht mit ihm aus, daß &#x017F;ie einander im Gefechte ku&#x0364;nftig<lb/>
ausweichen wollen. Doch man ho&#x0364;re den Homer &#x017F;elb&#x017F;t:</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>&#x201E;Al&#x017F;o bin ich nunmehr dein Ga&#x017F;tfreund mitten in Argos,</l><lb/>
          <l>Du in Lykia mir, wenn jenes Land ich be&#x017F;uche.</l><lb/>
          <l>Drum mit un&#x017F;eren Lanzen vermeiden wir uns im Ge-</l><lb/>
          <l>tu&#x0364;mmel.</l><lb/>
          <l>Viel ja &#x017F;ind der Troer mir &#x017F;elb&#x017F;t und der ru&#x0364;hmlichen</l><lb/>
          <l>Helfer,</l><lb/>
          <l>
</l>
        </lg>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[74/0042] zaͤhlung dieſes Vorfalls, ſeine eigene Verwunderung, ſeine Ruͤhrung nicht verbergen. Das Gefuͤhl des Ab- ſtandes jener Sitten von denjenigen, die Sein Zeitalter charakteriſieren, uͤberwaͤltigt ihn. Er verlaͤßt auf einmal das Gemaͤhlde des Gegenſtandes und erſcheint in eigener Perſon: Man kennt die ſchoͤne Stanze und hat ſie immer vorzuͤglich bewundert: O Edelmuth der alten Ritterſitten! Die Nebenbuler waren, die entzweyt Im Glauben waren, bittern Schmerz noch litten Am ganzen Leib von feindlich wilden Streit, Frey von Verdacht und in Gemeinſchaft ritten Sie durch des krummen Pfades Dunkelheit. Das Roß, getrieben von vier Sporen, eilte Biß wo der Weg ſich in zwey Straßen theilte. * Und nun der alte Homer! Kaum erfaͤhrt Diomed aus Glaukus ſeines Gegners Erzaͤhlung, daß dieſer von Vaͤ- terzeiten her ein Gaſtfreund ſeines Geſchlechts iſt, ſo ſteckt er die Lanze in die Erde, redet freundlich mit ihm, und macht mit ihm aus, daß ſie einander im Gefechte kuͤnftig ausweichen wollen. Doch man hoͤre den Homer ſelbſt: „Alſo bin ich nunmehr dein Gaſtfreund mitten in Argos, Du in Lykia mir, wenn jenes Land ich beſuche. Drum mit unſeren Lanzen vermeiden wir uns im Ge- tuͤmmel. Viel ja ſind der Troer mir ſelbſt und der ruͤhmlichen Helfer, * Der raſende Roland. Erſter Geſang. Stanze 32.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795/42
Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76, hier S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795/42>, abgerufen am 19.04.2024.