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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.

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lieb gewinnen lernte. Ich war noch nicht fähig, die
Natur aus der ersten Hand zu verstehen. Nur ihr durch
den Verstand reflektiertes und durch die Regel zurecht
gelegtes Bild konnte ich ertragen, und dazu waren die
sentimentalischen Dichter der Franzosen und auch der
Deutschen, von den Jahren 1750 bis etwa 1780, gerade
die rechten Subjekte. Uebrigens schäme ich mich dieses
Kinderurtheils nicht, da die bejahrte Kritik ein ähnliches
fällte, und naiv genug war, es in die Welt hineinzuschreiben.

Dasselbe ist mir auch mit dem Homer begegnet, den
ich in einer noch spätern Periode kennen lernte. Ich er-
innere mich jetzt der merkwürdigen Stelle im VI Buch
der Ilias, wo Glaukus und Diomed im Gefecht auf
einander stossen, und nachdem sie sich als Gastfreunde
erkannt, einander Geschenke geben. Diesem rührenden
Gemählde der Pietät, mit der die Gesetze des Gast-
rechts
selbst im Kriege beobachtet wurden, kann eine
Schilderung des ritterlichen Edelmuths im Ariost
an die Seite gestellt werden, wo zwey Ritter und Neben-
buler, Ferrau und Rinald, dieser ein Christ, jener
ein Saracene, nach einem heftigen Kampf und mit Wun-
den bedeckt, Friede machen, und um die flüchtige Ange-
lika einzuhohlen, das nehmliche Pferd besteigen. Beyde
Beyspiele, so verschieden sie übrigens seyn mögen, kom-
men einander in der Wirkung auf unser Herz beynahe
gleich, weil beyde den schönen Sieg der Sitten über
die Leidenschaft mahlen, und uns durch Naivheit der
Gesinnungen rühren. Aber wie ganz verschieden nehmen
sich die Dichter bey Beschreibung dieser ähnlichen Hand-
lung. Ariost, der Bürger einer späteren und von der
Einfalt der Sitten abgekommenen Welt kann bey der Er-

lieb gewinnen lernte. Ich war noch nicht faͤhig, die
Natur aus der erſten Hand zu verſtehen. Nur ihr durch
den Verſtand reflektiertes und durch die Regel zurecht
gelegtes Bild konnte ich ertragen, und dazu waren die
ſentimentaliſchen Dichter der Franzoſen und auch der
Deutſchen, von den Jahren 1750 bis etwa 1780, gerade
die rechten Subjekte. Uebrigens ſchaͤme ich mich dieſes
Kinderurtheils nicht, da die bejahrte Kritik ein aͤhnliches
faͤllte, und naiv genug war, es in die Welt hineinzuſchreiben.

Daſſelbe iſt mir auch mit dem Homer begegnet, den
ich in einer noch ſpaͤtern Periode kennen lernte. Ich er-
innere mich jetzt der merkwuͤrdigen Stelle im VI Buch
der Ilias, wo Glaukus und Diomed im Gefecht auf
einander ſtoſſen, und nachdem ſie ſich als Gaſtfreunde
erkannt, einander Geſchenke geben. Dieſem ruͤhrenden
Gemaͤhlde der Pietaͤt, mit der die Geſetze des Gaſt-
rechts
ſelbſt im Kriege beobachtet wurden, kann eine
Schilderung des ritterlichen Edelmuths im Arioſt
an die Seite geſtellt werden, wo zwey Ritter und Neben-
buler, Ferrau und Rinald, dieſer ein Chriſt, jener
ein Saracene, nach einem heftigen Kampf und mit Wun-
den bedeckt, Friede machen, und um die fluͤchtige Ange-
lika einzuhohlen, das nehmliche Pferd beſteigen. Beyde
Beyſpiele, ſo verſchieden ſie uͤbrigens ſeyn moͤgen, kom-
men einander in der Wirkung auf unſer Herz beynahe
gleich, weil beyde den ſchoͤnen Sieg der Sitten uͤber
die Leidenſchaft mahlen, und uns durch Naivheit der
Geſinnungen ruͤhren. Aber wie ganz verſchieden nehmen
ſich die Dichter bey Beſchreibung dieſer aͤhnlichen Hand-
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[73/0041] lieb gewinnen lernte. Ich war noch nicht faͤhig, die Natur aus der erſten Hand zu verſtehen. Nur ihr durch den Verſtand reflektiertes und durch die Regel zurecht gelegtes Bild konnte ich ertragen, und dazu waren die ſentimentaliſchen Dichter der Franzoſen und auch der Deutſchen, von den Jahren 1750 bis etwa 1780, gerade die rechten Subjekte. Uebrigens ſchaͤme ich mich dieſes Kinderurtheils nicht, da die bejahrte Kritik ein aͤhnliches faͤllte, und naiv genug war, es in die Welt hineinzuſchreiben. Daſſelbe iſt mir auch mit dem Homer begegnet, den ich in einer noch ſpaͤtern Periode kennen lernte. Ich er- innere mich jetzt der merkwuͤrdigen Stelle im VI Buch der Ilias, wo Glaukus und Diomed im Gefecht auf einander ſtoſſen, und nachdem ſie ſich als Gaſtfreunde erkannt, einander Geſchenke geben. Dieſem ruͤhrenden Gemaͤhlde der Pietaͤt, mit der die Geſetze des Gaſt- rechts ſelbſt im Kriege beobachtet wurden, kann eine Schilderung des ritterlichen Edelmuths im Arioſt an die Seite geſtellt werden, wo zwey Ritter und Neben- buler, Ferrau und Rinald, dieſer ein Chriſt, jener ein Saracene, nach einem heftigen Kampf und mit Wun- den bedeckt, Friede machen, und um die fluͤchtige Ange- lika einzuhohlen, das nehmliche Pferd beſteigen. Beyde Beyſpiele, ſo verſchieden ſie uͤbrigens ſeyn moͤgen, kom- men einander in der Wirkung auf unſer Herz beynahe gleich, weil beyde den ſchoͤnen Sieg der Sitten uͤber die Leidenſchaft mahlen, und uns durch Naivheit der Geſinnungen ruͤhren. Aber wie ganz verſchieden nehmen ſich die Dichter bey Beſchreibung dieſer aͤhnlichen Hand- lung. Arioſt, der Buͤrger einer ſpaͤteren und von der Einfalt der Sitten abgekommenen Welt kann bey der Er-

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76, hier S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795/41>, abgerufen am 24.11.2024.