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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.

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Daß ich tödte, wen Gott mir gewährt, und die Schen-
kel erreichen;
Viel auch dir der Achaier, daß, welchen du kannst, du
erlegest.
Aber die Rüstungen beide vertauschen wir, daß auch die
andern
Schaun, wie wir Gäste zu seyn aus Väterzeiten uns
rühmen.
Also redeten jene, herab von den Wagen sich schwingend
Faßten sie beide einander die Händ und gelobten sich
Freundschaft."

Schwerlich dürfte ein moderner Dichter (wenigstens
schwerlich einer, der es in der moralischen Bedeutung die-
ses Worts ist) auch nur biß hieher gewartet haben um sei-
ne Freude an dieser Handlung zu bezeugen. Wir würden
es ihm um so leichter verzeyhen, da auch unser Herz beym
Lesen einen Stillstand macht, und sich von dem Objekte
gern entfernt, um in sich selbst zu schauen. Aber von al-
lem diesem keine Spur im Homer; als ob er etwas all-
tägliches berichtet hätte, ja als ob er selbst kein Herz in
dem Busen trüge, fährt er in seiner trockenen Wahrhaf-
tigkeit fort:

"Doch den Glaukus erregete Zevs, daß er ohne Besin-
nung
Gegen den Held Diomedes die Rüstungen, goldne mit
ehrnen
Wechselte, hundert Farren werth, neun Farren die an-
dern*
* Ilias. Voßische Uebersetzung. I Band. Seite 153.
Daß ich toͤdte, wen Gott mir gewaͤhrt, und die Schen-
kel erreichen;
Viel auch dir der Achaier, daß, welchen du kannſt, du
erlegeſt.
Aber die Ruͤſtungen beide vertauſchen wir, daß auch die
andern
Schaun, wie wir Gaͤſte zu ſeyn aus Vaͤterzeiten uns
ruͤhmen.
Alſo redeten jene, herab von den Wagen ſich ſchwingend
Faßten ſie beide einander die Haͤnd und gelobten ſich
Freundſchaft.”

Schwerlich duͤrfte ein moderner Dichter (wenigſtens
ſchwerlich einer, der es in der moraliſchen Bedeutung die-
ſes Worts iſt) auch nur biß hieher gewartet haben um ſei-
ne Freude an dieſer Handlung zu bezeugen. Wir wuͤrden
es ihm um ſo leichter verzeyhen, da auch unſer Herz beym
Leſen einen Stillſtand macht, und ſich von dem Objekte
gern entfernt, um in ſich ſelbſt zu ſchauen. Aber von al-
lem dieſem keine Spur im Homer; als ob er etwas all-
taͤgliches berichtet haͤtte, ja als ob er ſelbſt kein Herz in
dem Buſen truͤge, faͤhrt er in ſeiner trockenen Wahrhaf-
tigkeit fort:

„Doch den Glaukus erregete Zevs, daß er ohne Beſin-
nung
Gegen den Held Diomedes die Ruͤſtungen, goldne mit
ehrnen
Wechſelte, hundert Farren werth, neun Farren die an-
dern*
* Ilias. Voßiſche Ueberſetzung. I Band. Seite 153.
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[75/0043] Daß ich toͤdte, wen Gott mir gewaͤhrt, und die Schen- kel erreichen; Viel auch dir der Achaier, daß, welchen du kannſt, du erlegeſt. Aber die Ruͤſtungen beide vertauſchen wir, daß auch die andern Schaun, wie wir Gaͤſte zu ſeyn aus Vaͤterzeiten uns ruͤhmen. Alſo redeten jene, herab von den Wagen ſich ſchwingend Faßten ſie beide einander die Haͤnd und gelobten ſich Freundſchaft.” Schwerlich duͤrfte ein moderner Dichter (wenigſtens ſchwerlich einer, der es in der moraliſchen Bedeutung die- ſes Worts iſt) auch nur biß hieher gewartet haben um ſei- ne Freude an dieſer Handlung zu bezeugen. Wir wuͤrden es ihm um ſo leichter verzeyhen, da auch unſer Herz beym Leſen einen Stillſtand macht, und ſich von dem Objekte gern entfernt, um in ſich ſelbſt zu ſchauen. Aber von al- lem dieſem keine Spur im Homer; als ob er etwas all- taͤgliches berichtet haͤtte, ja als ob er ſelbſt kein Herz in dem Buſen truͤge, faͤhrt er in ſeiner trockenen Wahrhaf- tigkeit fort: „Doch den Glaukus erregete Zevs, daß er ohne Beſin- nung Gegen den Held Diomedes die Ruͤſtungen, goldne mit ehrnen Wechſelte, hundert Farren werth, neun Farren die an- dern * * Ilias. Voßiſche Ueberſetzung. I Band. Seite 153.

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76, hier S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795/43>, abgerufen am 24.11.2024.