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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.

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wissen wenig von dem Privatleben der größten Genies,
aber auch das wenige, was uns z. B. von Sophokles,
von Archimed, von Hippokrates, und aus neue-
ren Zeiten von Ariost, Dante und Tasso, von Ra-
phael
, von Albrecht, Dürer, Zervantes, Sha-
kespear
, von Fielding, Sterne u. a. aufbewahrt
worden ist, bestätigt diese Behauptung.

Ja, was noch weit mehr Schwürigkeit zu haben
scheint, selbst der große Staatsmann und Feldherr, wer-
den sobald sie durch ihr Genie groß sind einen naiven Cha-
rakter zeigen. Ich will hier unter den Alten nur an Epa-
minondas
und Julius Cäsar, unter den Neuern nur
an Heinrich IV von Frankreich, Gustav Adolph
von Schweden und den Czar Peter den Großen er-
innern. Der Herzog von Marlborough, Türen-
ne, Vendome
zeigen uns alle diesen Charakter. Dem
andern Geschlecht hat die Natur in dem naiven Charak-
ter seine höchste Vollkommenheit angewiesen. Nach nichts
ringt die weibliche Gefallsucht so sehr als nach dem
Schein des Naiven; Beweis genug, wenn man auch
sonst keinen hätte, daß die größte Macht des Geschlechts
auf dieser Eigenschaft beruhet. Weil aber die herrschen-
den Grundsätze bey der weiblichen Erziehung mit diesem
Charakter in ewigem Streit liegen, so ist es dem Weibe
im moralischen eben so schwer als dem Mann im intellek-
tuellen mit den Vortheilen der guten Erziehung jenes herr-
liche Geschenk der Natur unverloren zu behalten; und die
Frau, die mit einem geschickten Betragen für die große
Welt diese Naivheit der Sitten verknüpft, ist eben so hoch-
achtungswürdig als der Gelehrte, der mit der ganzen Stren-
ge der Schule Genialische Freyheit des Denkens verbindet.

wiſſen wenig von dem Privatleben der groͤßten Genies,
aber auch das wenige, was uns z. B. von Sophokles,
von Archimed, von Hippokrates, und aus neue-
ren Zeiten von Arioſt, Dante und Taſſo, von Ra-
phael
, von Albrecht, Duͤrer, Zervantes, Sha-
keſpear
, von Fielding, Sterne u. a. aufbewahrt
worden iſt, beſtaͤtigt dieſe Behauptung.

Ja, was noch weit mehr Schwuͤrigkeit zu haben
ſcheint, ſelbſt der große Staatsmann und Feldherr, wer-
den ſobald ſie durch ihr Genie groß ſind einen naiven Cha-
rakter zeigen. Ich will hier unter den Alten nur an Epa-
minondas
und Julius Caͤſar, unter den Neuern nur
an Heinrich IV von Frankreich, Guſtav Adolph
von Schweden und den Czar Peter den Großen er-
innern. Der Herzog von Marlborough, Tuͤren-
ne, Vendome
zeigen uns alle dieſen Charakter. Dem
andern Geſchlecht hat die Natur in dem naiven Charak-
ter ſeine hoͤchſte Vollkommenheit angewieſen. Nach nichts
ringt die weibliche Gefallſucht ſo ſehr als nach dem
Schein des Naiven; Beweis genug, wenn man auch
ſonſt keinen haͤtte, daß die groͤßte Macht des Geſchlechts
auf dieſer Eigenſchaft beruhet. Weil aber die herrſchen-
den Grundſaͤtze bey der weiblichen Erziehung mit dieſem
Charakter in ewigem Streit liegen, ſo iſt es dem Weibe
im moraliſchen eben ſo ſchwer als dem Mann im intellek-
tuellen mit den Vortheilen der guten Erziehung jenes herr-
liche Geſchenk der Natur unverloren zu behalten; und die
Frau, die mit einem geſchickten Betragen fuͤr die große
Welt dieſe Naivheit der Sitten verknuͤpft, iſt eben ſo hoch-
achtungswuͤrdig als der Gelehrte, der mit der ganzen Stren-
ge der Schule Genialiſche Freyheit des Denkens verbindet.

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[61/0029] wiſſen wenig von dem Privatleben der groͤßten Genies, aber auch das wenige, was uns z. B. von Sophokles, von Archimed, von Hippokrates, und aus neue- ren Zeiten von Arioſt, Dante und Taſſo, von Ra- phael, von Albrecht, Duͤrer, Zervantes, Sha- keſpear, von Fielding, Sterne u. a. aufbewahrt worden iſt, beſtaͤtigt dieſe Behauptung. Ja, was noch weit mehr Schwuͤrigkeit zu haben ſcheint, ſelbſt der große Staatsmann und Feldherr, wer- den ſobald ſie durch ihr Genie groß ſind einen naiven Cha- rakter zeigen. Ich will hier unter den Alten nur an Epa- minondas und Julius Caͤſar, unter den Neuern nur an Heinrich IV von Frankreich, Guſtav Adolph von Schweden und den Czar Peter den Großen er- innern. Der Herzog von Marlborough, Tuͤren- ne, Vendome zeigen uns alle dieſen Charakter. Dem andern Geſchlecht hat die Natur in dem naiven Charak- ter ſeine hoͤchſte Vollkommenheit angewieſen. Nach nichts ringt die weibliche Gefallſucht ſo ſehr als nach dem Schein des Naiven; Beweis genug, wenn man auch ſonſt keinen haͤtte, daß die groͤßte Macht des Geſchlechts auf dieſer Eigenſchaft beruhet. Weil aber die herrſchen- den Grundſaͤtze bey der weiblichen Erziehung mit dieſem Charakter in ewigem Streit liegen, ſo iſt es dem Weibe im moraliſchen eben ſo ſchwer als dem Mann im intellek- tuellen mit den Vortheilen der guten Erziehung jenes herr- liche Geſchenk der Natur unverloren zu behalten; und die Frau, die mit einem geſchickten Betragen fuͤr die große Welt dieſe Naivheit der Sitten verknuͤpft, iſt eben ſo hoch- achtungswuͤrdig als der Gelehrte, der mit der ganzen Stren- ge der Schule Genialiſche Freyheit des Denkens verbindet.

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76, hier S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795/29>, abgerufen am 25.04.2024.