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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.

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Aus der naiven Denkart fließt nothwendiger weise
auch ein naiver Ausdruck sowohl in Worten als Bewe-
gungen, und er ist das wichtigste Bestandstück der Grazie.
Mit dieser naiven Anmuth drückt das Genie seine erha-
bensten und tiefsten Gedanken aus; es sind Göttersprü-
che aus dem Mund eines Kindes. Wenn der Schul-
verstand, immer vor Irrthum bange, seine Worte wie
seine Begriffe an das Kreuz der Grammatik und Logik
schlägt, hart und steif ist, um ja nicht unbestimmt zu seyn,
viele Worte macht, um ja nicht zu viel zu sagen, und dem
Gedanken, damit er ja den Unvorsichtigen nicht schneide,
lieber die Kraft und die Schärfe nimmt, so giebt das
Genie dem seinigen mit einem einzigen glücklichen Pinsel-
strich einen ewig bestimmten, festen und dennoch ganz
freyen Umriß. Wenn dort das Zeichen dem Bezeichne-
ten ewig heterogen und fremd bleibt, so springt hier wie
durch innere Nothwendigkeit die Sprache aus dem Gedan-
ken hervor, und ist so sehr eins mit demselben, daß selbst
unter der körperlichen Hülle der Geist wie entblößet er-
scheint. Eine solche Art des Ausdrucks, wo das Zeichen
ganz in dem Bezeichneten verschwindet, und wo die Spra-
che den Gedanken, den sie ausdrückt, noch gleichsam na-
ckend läßt, da ihn die andre nie darstellen kann, ohne ihn
zugleich zu verhüllen, ist es, was man in der Schreibart
vorzugsweise genialisch und geistreich nennt.

Frey und natürlich, wie das Genie in seinen Geistes-
werken, drückt sich die Unschuld des Herzens im lebendigen
Umgang aus. Bekanntlich ist man im gesellschaftlichen
Leben von der Simplicität und strengen Wahrheit des Aus-
drucks in demselben Verhältniß, wie von der Einfalt der
Gesinnungen abgekommen, und die leicht zu verwundende

Aus der naiven Denkart fließt nothwendiger weiſe
auch ein naiver Ausdruck ſowohl in Worten als Bewe-
gungen, und er iſt das wichtigſte Beſtandſtuͤck der Grazie.
Mit dieſer naiven Anmuth druͤckt das Genie ſeine erha-
benſten und tiefſten Gedanken aus; es ſind Goͤtterſpruͤ-
che aus dem Mund eines Kindes. Wenn der Schul-
verſtand, immer vor Irrthum bange, ſeine Worte wie
ſeine Begriffe an das Kreuz der Grammatik und Logik
ſchlaͤgt, hart und ſteif iſt, um ja nicht unbeſtimmt zu ſeyn,
viele Worte macht, um ja nicht zu viel zu ſagen, und dem
Gedanken, damit er ja den Unvorſichtigen nicht ſchneide,
lieber die Kraft und die Schaͤrfe nimmt, ſo giebt das
Genie dem ſeinigen mit einem einzigen gluͤcklichen Pinſel-
ſtrich einen ewig beſtimmten, feſten und dennoch ganz
freyen Umriß. Wenn dort das Zeichen dem Bezeichne-
ten ewig heterogen und fremd bleibt, ſo ſpringt hier wie
durch innere Nothwendigkeit die Sprache aus dem Gedan-
ken hervor, und iſt ſo ſehr eins mit demſelben, daß ſelbſt
unter der koͤrperlichen Huͤlle der Geiſt wie entbloͤßet er-
ſcheint. Eine ſolche Art des Ausdrucks, wo das Zeichen
ganz in dem Bezeichneten verſchwindet, und wo die Spra-
che den Gedanken, den ſie ausdruͤckt, noch gleichſam na-
ckend laͤßt, da ihn die andre nie darſtellen kann, ohne ihn
zugleich zu verhuͤllen, iſt es, was man in der Schreibart
vorzugsweiſe genialiſch und geiſtreich nennt.

Frey und natuͤrlich, wie das Genie in ſeinen Geiſtes-
werken, druͤckt ſich die Unſchuld des Herzens im lebendigen
Umgang aus. Bekanntlich iſt man im geſellſchaftlichen
Leben von der Simplicitaͤt und ſtrengen Wahrheit des Aus-
drucks in demſelben Verhaͤltniß, wie von der Einfalt der
Geſinnungen abgekommen, und die leicht zu verwundende

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[62/0030] Aus der naiven Denkart fließt nothwendiger weiſe auch ein naiver Ausdruck ſowohl in Worten als Bewe- gungen, und er iſt das wichtigſte Beſtandſtuͤck der Grazie. Mit dieſer naiven Anmuth druͤckt das Genie ſeine erha- benſten und tiefſten Gedanken aus; es ſind Goͤtterſpruͤ- che aus dem Mund eines Kindes. Wenn der Schul- verſtand, immer vor Irrthum bange, ſeine Worte wie ſeine Begriffe an das Kreuz der Grammatik und Logik ſchlaͤgt, hart und ſteif iſt, um ja nicht unbeſtimmt zu ſeyn, viele Worte macht, um ja nicht zu viel zu ſagen, und dem Gedanken, damit er ja den Unvorſichtigen nicht ſchneide, lieber die Kraft und die Schaͤrfe nimmt, ſo giebt das Genie dem ſeinigen mit einem einzigen gluͤcklichen Pinſel- ſtrich einen ewig beſtimmten, feſten und dennoch ganz freyen Umriß. Wenn dort das Zeichen dem Bezeichne- ten ewig heterogen und fremd bleibt, ſo ſpringt hier wie durch innere Nothwendigkeit die Sprache aus dem Gedan- ken hervor, und iſt ſo ſehr eins mit demſelben, daß ſelbſt unter der koͤrperlichen Huͤlle der Geiſt wie entbloͤßet er- ſcheint. Eine ſolche Art des Ausdrucks, wo das Zeichen ganz in dem Bezeichneten verſchwindet, und wo die Spra- che den Gedanken, den ſie ausdruͤckt, noch gleichſam na- ckend laͤßt, da ihn die andre nie darſtellen kann, ohne ihn zugleich zu verhuͤllen, iſt es, was man in der Schreibart vorzugsweiſe genialiſch und geiſtreich nennt. Frey und natuͤrlich, wie das Genie in ſeinen Geiſtes- werken, druͤckt ſich die Unſchuld des Herzens im lebendigen Umgang aus. Bekanntlich iſt man im geſellſchaftlichen Leben von der Simplicitaͤt und ſtrengen Wahrheit des Aus- drucks in demſelben Verhaͤltniß, wie von der Einfalt der Geſinnungen abgekommen, und die leicht zu verwundende

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76, hier S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795/30>, abgerufen am 29.03.2024.