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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76.

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weitern, ohne über sie hinauszugehen. Zwar be-
gegnet letzteres zuweilen auch den größten Genies, aber
nur, weil auch diese ihre phantastischen Augenblicke ha-
ben, wo die schützende Natur sie verläßt, weil die Macht
des Beyspiels sie hinreißt, oder der verderbte Geschmack
ihrer Zeit sie verleitet.

Die verwickeltsten Aufgaben muß das Genie mit an-
spruchloser Simplicität und Leichtigkeit lösen; das Ey
des Columbus gilt von jeder genialischen Entscheidung.
Dadurch allein legitimiert es sich als Genie, daß es durch
Einfalt über die verwickelte Kunst triumphiert. Es ver-
fährt nicht nach erkannten Prinzipien sondern nach Ein-
fällen und Gefühlen; aber seine Einfälle sind Eingebun-
gen eines Gottes (alles was die gesunde Natur thut ist
göttlich) seine Gefühle sind Gesetze für alle Zeiten und
für alle Geschlechter der Menschen.

Den kindlichen Charakter, den das Genie in seinen
Werken abdrückt, zeigt es auch in seinem Privat-Leben
und in seinen Sitten. Es ist schaamhaft, weil die
Natur dieses immer ist; aber es ist nicht decent, weil
nur die Verderbniß decent ist. Es ist verständig, denn
die Natur kann nie das Gegentheil seyn; aber es ist nicht
listig, denn das kann nur die Kunst seyn. Es ist sei-
nem Charakter und seinen Neigungen treu, aber nicht
sowohl weil es Grundsätze hat, als weil die Natur bey
allem Schwanken immer wieder in die vorige Stelle
rückt, immer das alte Bedürfniß zurückbringt. Es ist
bescheiden, ja blöde, weil das Genie immer sich selbst
ein Geheimniß bleibt, aber es ist nicht ängstlich, weil es
die Gefahren des Weges nicht kennt, den es wandelt. Wir

weitern, ohne uͤber ſie hinauszugehen. Zwar be-
gegnet letzteres zuweilen auch den groͤßten Genies, aber
nur, weil auch dieſe ihre phantaſtiſchen Augenblicke ha-
ben, wo die ſchuͤtzende Natur ſie verlaͤßt, weil die Macht
des Beyſpiels ſie hinreißt, oder der verderbte Geſchmack
ihrer Zeit ſie verleitet.

Die verwickeltſten Aufgaben muß das Genie mit an-
ſpruchloſer Simplicitaͤt und Leichtigkeit loͤſen; das Ey
des Columbus gilt von jeder genialiſchen Entſcheidung.
Dadurch allein legitimiert es ſich als Genie, daß es durch
Einfalt uͤber die verwickelte Kunſt triumphiert. Es ver-
faͤhrt nicht nach erkannten Prinzipien ſondern nach Ein-
faͤllen und Gefuͤhlen; aber ſeine Einfaͤlle ſind Eingebun-
gen eines Gottes (alles was die geſunde Natur thut iſt
goͤttlich) ſeine Gefuͤhle ſind Geſetze fuͤr alle Zeiten und
fuͤr alle Geſchlechter der Menſchen.

Den kindlichen Charakter, den das Genie in ſeinen
Werken abdruͤckt, zeigt es auch in ſeinem Privat-Leben
und in ſeinen Sitten. Es iſt ſchaamhaft, weil die
Natur dieſes immer iſt; aber es iſt nicht decent, weil
nur die Verderbniß decent iſt. Es iſt verſtaͤndig, denn
die Natur kann nie das Gegentheil ſeyn; aber es iſt nicht
liſtig, denn das kann nur die Kunſt ſeyn. Es iſt ſei-
nem Charakter und ſeinen Neigungen treu, aber nicht
ſowohl weil es Grundſaͤtze hat, als weil die Natur bey
allem Schwanken immer wieder in die vorige Stelle
ruͤckt, immer das alte Beduͤrfniß zuruͤckbringt. Es iſt
beſcheiden, ja bloͤde, weil das Genie immer ſich ſelbſt
ein Geheimniß bleibt, aber es iſt nicht aͤngſtlich, weil es
die Gefahren des Weges nicht kennt, den es wandelt. Wir

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[60/0028] weitern, ohne uͤber ſie hinauszugehen. Zwar be- gegnet letzteres zuweilen auch den groͤßten Genies, aber nur, weil auch dieſe ihre phantaſtiſchen Augenblicke ha- ben, wo die ſchuͤtzende Natur ſie verlaͤßt, weil die Macht des Beyſpiels ſie hinreißt, oder der verderbte Geſchmack ihrer Zeit ſie verleitet. Die verwickeltſten Aufgaben muß das Genie mit an- ſpruchloſer Simplicitaͤt und Leichtigkeit loͤſen; das Ey des Columbus gilt von jeder genialiſchen Entſcheidung. Dadurch allein legitimiert es ſich als Genie, daß es durch Einfalt uͤber die verwickelte Kunſt triumphiert. Es ver- faͤhrt nicht nach erkannten Prinzipien ſondern nach Ein- faͤllen und Gefuͤhlen; aber ſeine Einfaͤlle ſind Eingebun- gen eines Gottes (alles was die geſunde Natur thut iſt goͤttlich) ſeine Gefuͤhle ſind Geſetze fuͤr alle Zeiten und fuͤr alle Geſchlechter der Menſchen. Den kindlichen Charakter, den das Genie in ſeinen Werken abdruͤckt, zeigt es auch in ſeinem Privat-Leben und in ſeinen Sitten. Es iſt ſchaamhaft, weil die Natur dieſes immer iſt; aber es iſt nicht decent, weil nur die Verderbniß decent iſt. Es iſt verſtaͤndig, denn die Natur kann nie das Gegentheil ſeyn; aber es iſt nicht liſtig, denn das kann nur die Kunſt ſeyn. Es iſt ſei- nem Charakter und ſeinen Neigungen treu, aber nicht ſowohl weil es Grundſaͤtze hat, als weil die Natur bey allem Schwanken immer wieder in die vorige Stelle ruͤckt, immer das alte Beduͤrfniß zuruͤckbringt. Es iſt beſcheiden, ja bloͤde, weil das Genie immer ſich ſelbſt ein Geheimniß bleibt, aber es iſt nicht aͤngſtlich, weil es die Gefahren des Weges nicht kennt, den es wandelt. Wir

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43-76, hier S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive01_1795/28>, abgerufen am 24.11.2024.