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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

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"Der Motive kenne ich fünferlei Arten:

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1) Vorwärtsschreitende, welche die Handlung fördern; psc_255.003
deren bedient sich vorzüglich das Drama.

psc_255.004

2) Rückwärtsschreitende, welche die Handlung von ihrem psc_255.005
Ziel entfernen; deren bedient sich das epische Gedicht fast psc_255.006
ausschließlich.

psc_255.007

3) Retardirende, welche den Gang aufhalten oder den psc_255.008
Weg verlängern; dieser bedienen sich beide Dichtarten mit psc_255.009
dem größten Vortheile.

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4) Zurückgreifende, durch die dasjenige, was vor der psc_255.011
Epoche des Gedichts geschehen ist, herausgehoben wird.

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5) Vorgreifende, die dasjenige, was nach der Epoche psc_255.013
des Gedichtes geschehen wird, anticipiren; beide Arten braucht psc_255.014
der epische, sowie der dramatische Dichter, um sein Gedicht psc_255.015
vollständig zu machen."

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Als selbstverständlich ist dabei übergangen: der Unterschied psc_255.017
zwischen Hauptmotiven und Nebenmotiven, was aber psc_255.018
doch gerade sehr wichtig. --

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Zur Lehre von der Composition gehört auch die Frage: psc_255.020
durch welche Mittel wird die nöthige Abwechselung erzielt?

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Am schwierigsten ist hierin das Drama, weil hier die psc_255.022
Forderung am gebieterischsten, weil hier die selbstthätige psc_255.023
Arbeit der Phantasie am wenigsten angeregt wird. Zum psc_255.024
Theil hängt das wieder vom Schauspieler ab: sie sollen nicht psc_255.025
zu viel unbeweglich dastehen, und sie müssen sich deshalb die psc_255.026
Methode der Abwechselung oft allein ausdenken oder der Regisseur psc_255.027
giebt sie an: Wechsel des Standortes, Wechsel zwischen psc_255.028
Stehen, Sitzen, Gehen. Zum Theil ordnet auch schon der

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  „Der Motive kenne ich fünferlei Arten:

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  1) Vorwärtsschreitende, welche die Handlung fördern; psc_255.003
deren bedient sich vorzüglich das Drama.

psc_255.004

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Ziel entfernen; deren bedient sich das epische Gedicht fast psc_255.006
ausschließlich.

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Weg verlängern; dieser bedienen sich beide Dichtarten mit psc_255.009
dem größten Vortheile.

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  4) Zurückgreifende, durch die dasjenige, was vor der psc_255.011
Epoche des Gedichts geschehen ist, herausgehoben wird.

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  5) Vorgreifende, die dasjenige, was nach der Epoche psc_255.013
des Gedichtes geschehen wird, anticipiren; beide Arten braucht psc_255.014
der epische, sowie der dramatische Dichter, um sein Gedicht psc_255.015
vollständig zu machen.“

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  Als selbstverständlich ist dabei übergangen: der Unterschied psc_255.017
zwischen Hauptmotiven und Nebenmotiven, was aber psc_255.018
doch gerade sehr wichtig. —

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  Zur Lehre von der Composition gehört auch die Frage: psc_255.020
durch welche Mittel wird die nöthige Abwechselung erzielt?

psc_255.021

  Am schwierigsten ist hierin das Drama, weil hier die psc_255.022
Forderung am gebieterischsten, weil hier die selbstthätige psc_255.023
Arbeit der Phantasie am wenigsten angeregt wird. Zum psc_255.024
Theil hängt das wieder vom Schauspieler ab: sie sollen nicht psc_255.025
zu viel unbeweglich dastehen, und sie müssen sich deshalb die psc_255.026
Methode der Abwechselung oft allein ausdenken oder der Regisseur psc_255.027
giebt sie an: Wechsel des Standortes, Wechsel zwischen psc_255.028
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[255/0271] psc_255.001   „Der Motive kenne ich fünferlei Arten: psc_255.002   1) Vorwärtsschreitende, welche die Handlung fördern; psc_255.003 deren bedient sich vorzüglich das Drama. psc_255.004   2) Rückwärtsschreitende, welche die Handlung von ihrem psc_255.005 Ziel entfernen; deren bedient sich das epische Gedicht fast psc_255.006 ausschließlich. psc_255.007   3) Retardirende, welche den Gang aufhalten oder den psc_255.008 Weg verlängern; dieser bedienen sich beide Dichtarten mit psc_255.009 dem größten Vortheile. psc_255.010   4) Zurückgreifende, durch die dasjenige, was vor der psc_255.011 Epoche des Gedichts geschehen ist, herausgehoben wird. psc_255.012   5) Vorgreifende, die dasjenige, was nach der Epoche psc_255.013 des Gedichtes geschehen wird, anticipiren; beide Arten braucht psc_255.014 der epische, sowie der dramatische Dichter, um sein Gedicht psc_255.015 vollständig zu machen.“ psc_255.016   Als selbstverständlich ist dabei übergangen: der Unterschied psc_255.017 zwischen Hauptmotiven und Nebenmotiven, was aber psc_255.018 doch gerade sehr wichtig. — psc_255.019   Zur Lehre von der Composition gehört auch die Frage: psc_255.020 durch welche Mittel wird die nöthige Abwechselung erzielt? psc_255.021   Am schwierigsten ist hierin das Drama, weil hier die psc_255.022 Forderung am gebieterischsten, weil hier die selbstthätige psc_255.023 Arbeit der Phantasie am wenigsten angeregt wird. Zum psc_255.024 Theil hängt das wieder vom Schauspieler ab: sie sollen nicht psc_255.025 zu viel unbeweglich dastehen, und sie müssen sich deshalb die psc_255.026 Methode der Abwechselung oft allein ausdenken oder der Regisseur psc_255.027 giebt sie an: Wechsel des Standortes, Wechsel zwischen psc_255.028 Stehen, Sitzen, Gehen. Zum Theil ordnet auch schon der

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Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/271>, abgerufen am 12.05.2024.