psc_142.001 der zeigt, wie ein Mensch unter der Sünde seufzt, die Gestalt psc_142.002 der Mignon, Lydia -- dies die Kranken; und von den psc_142.003 Gesunden Natalie, Therese, Fräulein von Klettenberg. Mithin psc_142.004 eine vollkommen sittliche Haltung, trotzdem eine directe psc_142.005 sittliche Wirkung nicht erstrebt ist.
psc_142.006
3) Der Dichter wirkt gar nicht sittlich. Diesen Standpunct psc_142.007 hat z. B. Goethe theoretisch eingenommen; und viele psc_142.008 reden ihm nach, sprechen von dem moralischen Zöpfchen des psc_142.009 18. Jahrhunderts. Aber in Wahrheit hat Goethe immer psc_142.010 auf dem zweiten Standpunct gestanden. Mehr als irgend psc_142.011 ein anderer Dichter hat er sittlich geweckt, erbaut; und so psc_142.012 widerlegt seine Wirkung praktisch seine Theorie. -- Es fragt psc_142.013 sich, ob dieser dritte Standpunct überhaupt praktisch vertreten psc_142.014 ist. Dies ist der Fall in solchen Büchern, die nur amüsant psc_142.015 sein sollen, welche die Wahrheit verläugnen und der Unterhaltung psc_142.016 wegen die Welt anders darstellen, als sie ist: Lustspieldichter, psc_142.017 die bloß lachen machen wollen u. s. w. Dennoch psc_142.018 kann auch daran, soweit das Lachen gesund ist, soweit es die psc_142.019 Stirn heiter macht, entladet und rein fegt, eine indirecte psc_142.020 sittliche Wirkung hängen. Jemand, der bloß unterhalten psc_142.021 will und dazu den Stoff nimmt, wo er ihn findet, kann so psc_142.022 noch immer auf den Willen wirken.
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Aus dieser Theorie, nicht sittlich veredelnd wirken zu psc_142.024 wollen, hat sich nun aber eine eigenthümliche Consequenz psc_142.025 ergeben. Es giebt Dichter, welche dafür halten, der idealste psc_142.026 Stoff der Poesie sei der Conflict zwischen Willen und psc_142.027 Moral. Ein bestimmter Dichter bekämpft diese allgemeine psc_142.028 Moral mit der "höheren Sittlichkeit". Hier also ist ein
psc_142.001 der zeigt, wie ein Mensch unter der Sünde seufzt, die Gestalt psc_142.002 der Mignon, Lydia — dies die Kranken; und von den psc_142.003 Gesunden Natalie, Therese, Fräulein von Klettenberg. Mithin psc_142.004 eine vollkommen sittliche Haltung, trotzdem eine directe psc_142.005 sittliche Wirkung nicht erstrebt ist.
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3) Der Dichter wirkt gar nicht sittlich. Diesen Standpunct psc_142.007 hat z. B. Goethe theoretisch eingenommen; und viele psc_142.008 reden ihm nach, sprechen von dem moralischen Zöpfchen des psc_142.009 18. Jahrhunderts. Aber in Wahrheit hat Goethe immer psc_142.010 auf dem zweiten Standpunct gestanden. Mehr als irgend psc_142.011 ein anderer Dichter hat er sittlich geweckt, erbaut; und so psc_142.012 widerlegt seine Wirkung praktisch seine Theorie. — Es fragt psc_142.013 sich, ob dieser dritte Standpunct überhaupt praktisch vertreten psc_142.014 ist. Dies ist der Fall in solchen Büchern, die nur amüsant psc_142.015 sein sollen, welche die Wahrheit verläugnen und der Unterhaltung psc_142.016 wegen die Welt anders darstellen, als sie ist: Lustspieldichter, psc_142.017 die bloß lachen machen wollen u. s. w. Dennoch psc_142.018 kann auch daran, soweit das Lachen gesund ist, soweit es die psc_142.019 Stirn heiter macht, entladet und rein fegt, eine indirecte psc_142.020 sittliche Wirkung hängen. Jemand, der bloß unterhalten psc_142.021 will und dazu den Stoff nimmt, wo er ihn findet, kann so psc_142.022 noch immer auf den Willen wirken.
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Aus dieser Theorie, nicht sittlich veredelnd wirken zu psc_142.024 wollen, hat sich nun aber eine eigenthümliche Consequenz psc_142.025 ergeben. Es giebt Dichter, welche dafür halten, der idealste psc_142.026 Stoff der Poesie sei der Conflict zwischen Willen und psc_142.027 Moral. Ein bestimmter Dichter bekämpft diese allgemeine psc_142.028 Moral mit der „höheren Sittlichkeit“. Hier also ist ein
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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/158>, abgerufen am 16.02.2025.
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