Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.psc_141.001 psc_141.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0157" n="141"/><lb n="psc_141.001"/> hat der Autor dann nicht so in der Hand. Eine ganz <lb n="psc_141.002"/> andere Form ist die, daß der Autor sich sagt: ich will nur <lb n="psc_141.003"/> wahr sein, will die Wahrheit des Lebens darstellen, wie es <lb n="psc_141.004"/> durchschnittlich ist. Eine solche Schilderung der Wahrheit <lb n="psc_141.005"/> des Lebens nach seinen Licht- und Schattenseiten sucht im <lb n="psc_141.006"/> Ausschnitt doch eine gewisse Totalität zu geben: die sittliche <lb n="psc_141.007"/> Haltung erwirbt allgemeine Achtung, die unsittliche führt zu <lb n="psc_141.008"/> Schwierigkeiten aller Art; wer den Leidenschaften unterliegt, <lb n="psc_141.009"/> zerrüttet sein Leben, ihm ist kein dauerndes Glück gestattet. <lb n="psc_141.010"/> Die idealen Gestalten wirken von selbst als Kritik für <lb n="psc_141.011"/> die unidealen, und so bilden die Contraste eine Art Kritik. <lb n="psc_141.012"/> Diesen Standpunct hat praktisch Goethe immer eingenommen, <lb n="psc_141.013"/> auch im „Wilhelm Meister“. Er zeigt allerdings eine furchtbare <lb n="psc_141.014"/> Nachsicht in Bezug auf geschlechtliche Vergehungen, ein <lb n="psc_141.015"/> allgemeines Verzeihen ohne jeden sittlichen Maßstab, z. B. <lb n="psc_141.016"/> für Philine; dem Menschen ist von vornherein nichts verwehrt. <lb n="psc_141.017"/> Und dennoch wird eine sittliche Wirkung erreicht in <lb n="psc_141.018"/> der ungeheuren, vollen Lebenswahrheit. Es wird nichts <lb n="psc_141.019"/> vertuscht, nichts weiß gemacht, was schwarz ist. Wir leben <lb n="psc_141.020"/> in einer Gesellschaft, in der besondere sittliche Ansichten <lb n="psc_141.021"/> herrschen, wie sie im vorigen Jahrhundert im Schwung <lb n="psc_141.022"/> waren. Aber über diese Figuren kann der Leser urtheilen <lb n="psc_141.023"/> wie über Mitlebende. Eben dies erzielt eine abschreckende <lb n="psc_141.024"/> Wirkung. Die jungen Mädchen haben dem Wilhelm gegenüber <lb n="psc_141.025"/> sofort das Gefühl: das ist ein Mensch, den du nicht <lb n="psc_141.026"/> heirathen möchtest! Vor allem aber sind hier die Contraste <lb n="psc_141.027"/> meisterhaft durchgeführt. Neben solchen Charakteren stehen <lb n="psc_141.028"/> ganz reine, ideale Gestalten, wie der reuevolle Harfenspieler, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [141/0157]
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hat der Autor dann nicht so in der Hand. Eine ganz psc_141.002
andere Form ist die, daß der Autor sich sagt: ich will nur psc_141.003
wahr sein, will die Wahrheit des Lebens darstellen, wie es psc_141.004
durchschnittlich ist. Eine solche Schilderung der Wahrheit psc_141.005
des Lebens nach seinen Licht- und Schattenseiten sucht im psc_141.006
Ausschnitt doch eine gewisse Totalität zu geben: die sittliche psc_141.007
Haltung erwirbt allgemeine Achtung, die unsittliche führt zu psc_141.008
Schwierigkeiten aller Art; wer den Leidenschaften unterliegt, psc_141.009
zerrüttet sein Leben, ihm ist kein dauerndes Glück gestattet. psc_141.010
Die idealen Gestalten wirken von selbst als Kritik für psc_141.011
die unidealen, und so bilden die Contraste eine Art Kritik. psc_141.012
Diesen Standpunct hat praktisch Goethe immer eingenommen, psc_141.013
auch im „Wilhelm Meister“. Er zeigt allerdings eine furchtbare psc_141.014
Nachsicht in Bezug auf geschlechtliche Vergehungen, ein psc_141.015
allgemeines Verzeihen ohne jeden sittlichen Maßstab, z. B. psc_141.016
für Philine; dem Menschen ist von vornherein nichts verwehrt. psc_141.017
Und dennoch wird eine sittliche Wirkung erreicht in psc_141.018
der ungeheuren, vollen Lebenswahrheit. Es wird nichts psc_141.019
vertuscht, nichts weiß gemacht, was schwarz ist. Wir leben psc_141.020
in einer Gesellschaft, in der besondere sittliche Ansichten psc_141.021
herrschen, wie sie im vorigen Jahrhundert im Schwung psc_141.022
waren. Aber über diese Figuren kann der Leser urtheilen psc_141.023
wie über Mitlebende. Eben dies erzielt eine abschreckende psc_141.024
Wirkung. Die jungen Mädchen haben dem Wilhelm gegenüber psc_141.025
sofort das Gefühl: das ist ein Mensch, den du nicht psc_141.026
heirathen möchtest! Vor allem aber sind hier die Contraste psc_141.027
meisterhaft durchgeführt. Neben solchen Charakteren stehen psc_141.028
ganz reine, ideale Gestalten, wie der reuevolle Harfenspieler,
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(2015-09-30T09:54:39Z)
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