Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite

psc_143.001
weiteres Feld: "Moral" nennt er die Grenzen, mit welchen psc_143.002
die Gesammtheit den Einzelnen beschränkend umgiebt; und psc_143.003
dem gegenüber macht er Propaganda für das "Sichausleben psc_143.004
der Natur", d. h. für die Gelüste. Seine Dichtung nimmt psc_143.005
Partei für die Gelüste gegen die Schranken der Gesellschaft. psc_143.006
Er kämpft also im Grunde doch für ein sittliches Jdeal -- psc_143.007
freilich im Gegensatz zu den bestehenden Verhältnissen. psc_143.008
Dieser Standpunct ist gefährlich: er schmeichelt den Leidenschaften; psc_143.009
er sucht direct unsittlich zu wirken. Aber der psc_143.010
Dichter verletzt auch die Wahrheit des Lebens: er zeigt psc_143.011
nicht, wie die Gesellschaft sich rächt. Nur durch eine gewisse psc_143.012
Unwahrheit, durch eine Täuschung, als wenn die Welt psc_143.013
anders wäre als sie ist, gelingt seine Darstellung. Diese psc_143.014
Poesie ist also nicht bloß vom sittlichen Standpunct aus psc_143.015
gefährlich, sondern durch die Unwahrheit der Darstellung ist psc_143.016
auch der aristotelische Grundsatz der Nachahmung verletzt. psc_143.017
Der Dichter verkennt, daß in Wahrheit kein Unterschied ist psc_143.018
zwischen Sittlichkeit und Moral; daß dies die Forderungen psc_143.019
sind, die die Menschheit an den Einzelnen stellt.

psc_143.020

Gefährlich ist dieser Standpunct eben, weil er den psc_143.021
Leidenschaften und den Wünschen der Menschen schmeichelt. psc_143.022
Jmmer ist es etwas Angenehmes, was zunächst für die psc_143.023
sich Auslebenden herauskommt, oft eine bloße willenlose psc_143.024
Schwäche gegenüber einem Gelüst, einem sinnlichen Begehren. psc_143.025
Zuweilen gehen sie nach Befriedigung der Gelüste direct in psc_143.026
den Tod, aber mit Anklagen gegen die Menschen; sie betonen psc_143.027
die Rechte der Wahlverwandtschaft. Andere gehen durch und psc_143.028
versammeln dazu eine Anzahl Freunde; zwei anderweitig verheirathete

psc_143.001
weiteres Feld: „Moral“ nennt er die Grenzen, mit welchen psc_143.002
die Gesammtheit den Einzelnen beschränkend umgiebt; und psc_143.003
dem gegenüber macht er Propaganda für das „Sichausleben psc_143.004
der Natur“, d. h. für die Gelüste. Seine Dichtung nimmt psc_143.005
Partei für die Gelüste gegen die Schranken der Gesellschaft. psc_143.006
Er kämpft also im Grunde doch für ein sittliches Jdeal — psc_143.007
freilich im Gegensatz zu den bestehenden Verhältnissen. psc_143.008
Dieser Standpunct ist gefährlich: er schmeichelt den Leidenschaften; psc_143.009
er sucht direct unsittlich zu wirken. Aber der psc_143.010
Dichter verletzt auch die Wahrheit des Lebens: er zeigt psc_143.011
nicht, wie die Gesellschaft sich rächt. Nur durch eine gewisse psc_143.012
Unwahrheit, durch eine Täuschung, als wenn die Welt psc_143.013
anders wäre als sie ist, gelingt seine Darstellung. Diese psc_143.014
Poesie ist also nicht bloß vom sittlichen Standpunct aus psc_143.015
gefährlich, sondern durch die Unwahrheit der Darstellung ist psc_143.016
auch der aristotelische Grundsatz der Nachahmung verletzt. psc_143.017
Der Dichter verkennt, daß in Wahrheit kein Unterschied ist psc_143.018
zwischen Sittlichkeit und Moral; daß dies die Forderungen psc_143.019
sind, die die Menschheit an den Einzelnen stellt.

psc_143.020

  Gefährlich ist dieser Standpunct eben, weil er den psc_143.021
Leidenschaften und den Wünschen der Menschen schmeichelt. psc_143.022
Jmmer ist es etwas Angenehmes, was zunächst für die psc_143.023
sich Auslebenden herauskommt, oft eine bloße willenlose psc_143.024
Schwäche gegenüber einem Gelüst, einem sinnlichen Begehren. psc_143.025
Zuweilen gehen sie nach Befriedigung der Gelüste direct in psc_143.026
den Tod, aber mit Anklagen gegen die Menschen; sie betonen psc_143.027
die Rechte der Wahlverwandtschaft. Andere gehen durch und psc_143.028
versammeln dazu eine Anzahl Freunde; zwei anderweitig verheirathete

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0159" n="143"/><lb n="psc_143.001"/>
weiteres Feld: &#x201E;Moral&#x201C; nennt er die Grenzen, mit welchen <lb n="psc_143.002"/>
die Gesammtheit den Einzelnen beschränkend umgiebt; und <lb n="psc_143.003"/>
dem gegenüber macht er Propaganda für das &#x201E;Sichausleben <lb n="psc_143.004"/>
der Natur&#x201C;, d. h. für die Gelüste. Seine Dichtung nimmt <lb n="psc_143.005"/>
Partei für die Gelüste gegen die Schranken der Gesellschaft. <lb n="psc_143.006"/>
Er kämpft also im Grunde doch für ein sittliches Jdeal &#x2014; <lb n="psc_143.007"/>
freilich im Gegensatz zu den bestehenden Verhältnissen. <lb n="psc_143.008"/>
Dieser Standpunct ist gefährlich: er schmeichelt den Leidenschaften; <lb n="psc_143.009"/>
er sucht direct unsittlich zu wirken. Aber der <lb n="psc_143.010"/>
Dichter verletzt auch die Wahrheit des Lebens: er zeigt <lb n="psc_143.011"/>
nicht, wie die Gesellschaft sich rächt. Nur durch eine gewisse <lb n="psc_143.012"/>
Unwahrheit, durch eine Täuschung, als wenn die Welt <lb n="psc_143.013"/>
anders wäre als sie ist, gelingt seine Darstellung. Diese <lb n="psc_143.014"/>
Poesie ist also nicht bloß vom sittlichen Standpunct aus <lb n="psc_143.015"/>
gefährlich, sondern durch die Unwahrheit der Darstellung ist <lb n="psc_143.016"/>
auch der aristotelische Grundsatz der Nachahmung verletzt. <lb n="psc_143.017"/>
Der Dichter verkennt, daß in Wahrheit kein Unterschied ist <lb n="psc_143.018"/>
zwischen Sittlichkeit und Moral; daß dies die Forderungen <lb n="psc_143.019"/>
sind, die die Menschheit an den Einzelnen stellt.</p>
            <lb n="psc_143.020"/>
            <p>  Gefährlich ist dieser Standpunct eben, weil er den <lb n="psc_143.021"/>
Leidenschaften und den Wünschen der Menschen schmeichelt. <lb n="psc_143.022"/>
Jmmer ist es etwas Angenehmes, was zunächst für die <lb n="psc_143.023"/>
sich Auslebenden herauskommt, oft eine bloße willenlose <lb n="psc_143.024"/>
Schwäche gegenüber einem Gelüst, einem sinnlichen Begehren. <lb n="psc_143.025"/>
Zuweilen gehen sie nach Befriedigung der Gelüste direct in <lb n="psc_143.026"/>
den Tod, aber mit Anklagen gegen die Menschen; sie betonen <lb n="psc_143.027"/>
die Rechte der Wahlverwandtschaft. Andere gehen durch und <lb n="psc_143.028"/>
versammeln dazu eine Anzahl Freunde; zwei anderweitig verheirathete
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[143/0159] psc_143.001 weiteres Feld: „Moral“ nennt er die Grenzen, mit welchen psc_143.002 die Gesammtheit den Einzelnen beschränkend umgiebt; und psc_143.003 dem gegenüber macht er Propaganda für das „Sichausleben psc_143.004 der Natur“, d. h. für die Gelüste. Seine Dichtung nimmt psc_143.005 Partei für die Gelüste gegen die Schranken der Gesellschaft. psc_143.006 Er kämpft also im Grunde doch für ein sittliches Jdeal — psc_143.007 freilich im Gegensatz zu den bestehenden Verhältnissen. psc_143.008 Dieser Standpunct ist gefährlich: er schmeichelt den Leidenschaften; psc_143.009 er sucht direct unsittlich zu wirken. Aber der psc_143.010 Dichter verletzt auch die Wahrheit des Lebens: er zeigt psc_143.011 nicht, wie die Gesellschaft sich rächt. Nur durch eine gewisse psc_143.012 Unwahrheit, durch eine Täuschung, als wenn die Welt psc_143.013 anders wäre als sie ist, gelingt seine Darstellung. Diese psc_143.014 Poesie ist also nicht bloß vom sittlichen Standpunct aus psc_143.015 gefährlich, sondern durch die Unwahrheit der Darstellung ist psc_143.016 auch der aristotelische Grundsatz der Nachahmung verletzt. psc_143.017 Der Dichter verkennt, daß in Wahrheit kein Unterschied ist psc_143.018 zwischen Sittlichkeit und Moral; daß dies die Forderungen psc_143.019 sind, die die Menschheit an den Einzelnen stellt. psc_143.020   Gefährlich ist dieser Standpunct eben, weil er den psc_143.021 Leidenschaften und den Wünschen der Menschen schmeichelt. psc_143.022 Jmmer ist es etwas Angenehmes, was zunächst für die psc_143.023 sich Auslebenden herauskommt, oft eine bloße willenlose psc_143.024 Schwäche gegenüber einem Gelüst, einem sinnlichen Begehren. psc_143.025 Zuweilen gehen sie nach Befriedigung der Gelüste direct in psc_143.026 den Tod, aber mit Anklagen gegen die Menschen; sie betonen psc_143.027 die Rechte der Wahlverwandtschaft. Andere gehen durch und psc_143.028 versammeln dazu eine Anzahl Freunde; zwei anderweitig verheirathete

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/159
Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/159>, abgerufen am 22.11.2024.