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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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aber auf einen Sophokles der differenziirten Welt hoffen dürfen; in der
gleichsam sündlichen Kunst auf eine Versöhnung. Von einer bisher
weniger bekannten Seite her scheint wenigstens die Möglichkeit der voll-
ständigen Erfüllung dieser Erwartung angedeutet.

Spanien hat den Geist hervorgebracht, der, wenn er auch dem
Stoff und Gegenstand nach selbst schon wieder eine Vergangenheit für
uns geworden ist, doch der Form und der Kunst nach ewig ist und
als schon erreicht und vorhanden zeigt, was die Theorie etwa nur als
eine Aufgabe für die zukünftige Kunst weissagen zu können schien. Ich
rede von Calderon, und ich rede so von ihm im Grunde nach der
Einen Tragödie, die ich kenne, wie sich aus Einem Werk des Sopho-
kles sein ganzer Geist ahnden ließe. Sie steht in dem spanischen Theater,
übersetzt von A. W. Schlegel, der zu seinem großen Verdienst, zuerst
eine ächte Uebersetzung des Shakespeare gegeben zu haben, auch noch
dieses hinzugefügt hat, den Calderon in deutscher Sprache erscheinen zu
lassen. Was ich also über Calderon sagen kann, bezieht sich auch bloß
auf dieses Werk. Es wäre zu dreist, daraus ein Urtheil über die
ganze Kunst dieses großen Geistes zu formiren. Was aber in diesem
Einen klar vorliegt, ist Folgendes.

Man könnte auf den ersten Blick geneigt seyn, den Calderon den
südlichen, vielleicht katholischen Shakespeare zu nennen, allein es ist
mehr als das, was beide Dichter unterscheidet. Das Erste und gleich-
sam der Grund des ganzen Gebäudes seiner Kunst ist freilich, was ihm
die katholische Religion gegeben hat, zu deren Anschauungen des Univer-
sums und der göttlichen Ordnung der Dinge es wesentlich gehört, daß
die Sünde sey und der Sünder, damit an ihnen Gott durch Vermitt-
lung der Kirche seine Gnade beweise. Damit ist eine allgemeine
Nothwendigkeit der Sünde eingeführt, und in dem vorliegenden Stück
des Calderon entwickelt sich das ganze Schicksal ans einer Art göttlicher
Schickung. Eusebio, der Held der Tragödie, ist der unbewußte und
unerkannte Sohn eines Curtio, dessen Tochter Julia von derselben
Mutter zugleich mit ihm unter einem wunderthätigen Kreuz im Walde
geboren ist, nachdem der Vater aus ungerechtem Verdacht die Mutter

aber auf einen Sophokles der differenziirten Welt hoffen dürfen; in der
gleichſam ſündlichen Kunſt auf eine Verſöhnung. Von einer bisher
weniger bekannten Seite her ſcheint wenigſtens die Möglichkeit der voll-
ſtändigen Erfüllung dieſer Erwartung angedeutet.

Spanien hat den Geiſt hervorgebracht, der, wenn er auch dem
Stoff und Gegenſtand nach ſelbſt ſchon wieder eine Vergangenheit für
uns geworden iſt, doch der Form und der Kunſt nach ewig iſt und
als ſchon erreicht und vorhanden zeigt, was die Theorie etwa nur als
eine Aufgabe für die zukünftige Kunſt weiſſagen zu können ſchien. Ich
rede von Calderon, und ich rede ſo von ihm im Grunde nach der
Einen Tragödie, die ich kenne, wie ſich aus Einem Werk des Sopho-
kles ſein ganzer Geiſt ahnden ließe. Sie ſteht in dem ſpaniſchen Theater,
überſetzt von A. W. Schlegel, der zu ſeinem großen Verdienſt, zuerſt
eine ächte Ueberſetzung des Shakeſpeare gegeben zu haben, auch noch
dieſes hinzugefügt hat, den Calderon in deutſcher Sprache erſcheinen zu
laſſen. Was ich alſo über Calderon ſagen kann, bezieht ſich auch bloß
auf dieſes Werk. Es wäre zu dreiſt, daraus ein Urtheil über die
ganze Kunſt dieſes großen Geiſtes zu formiren. Was aber in dieſem
Einen klar vorliegt, iſt Folgendes.

Man könnte auf den erſten Blick geneigt ſeyn, den Calderon den
ſüdlichen, vielleicht katholiſchen Shakeſpeare zu nennen, allein es iſt
mehr als das, was beide Dichter unterſcheidet. Das Erſte und gleich-
ſam der Grund des ganzen Gebäudes ſeiner Kunſt iſt freilich, was ihm
die katholiſche Religion gegeben hat, zu deren Anſchauungen des Univer-
ſums und der göttlichen Ordnung der Dinge es weſentlich gehört, daß
die Sünde ſey und der Sünder, damit an ihnen Gott durch Vermitt-
lung der Kirche ſeine Gnade beweiſe. Damit iſt eine allgemeine
Nothwendigkeit der Sünde eingeführt, und in dem vorliegenden Stück
des Calderon entwickelt ſich das ganze Schickſal ans einer Art göttlicher
Schickung. Euſebio, der Held der Tragödie, iſt der unbewußte und
unerkannte Sohn eines Curtio, deſſen Tochter Julia von derſelben
Mutter zugleich mit ihm unter einem wunderthätigen Kreuz im Walde
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[726/0402] aber auf einen Sophokles der differenziirten Welt hoffen dürfen; in der gleichſam ſündlichen Kunſt auf eine Verſöhnung. Von einer bisher weniger bekannten Seite her ſcheint wenigſtens die Möglichkeit der voll- ſtändigen Erfüllung dieſer Erwartung angedeutet. Spanien hat den Geiſt hervorgebracht, der, wenn er auch dem Stoff und Gegenſtand nach ſelbſt ſchon wieder eine Vergangenheit für uns geworden iſt, doch der Form und der Kunſt nach ewig iſt und als ſchon erreicht und vorhanden zeigt, was die Theorie etwa nur als eine Aufgabe für die zukünftige Kunſt weiſſagen zu können ſchien. Ich rede von Calderon, und ich rede ſo von ihm im Grunde nach der Einen Tragödie, die ich kenne, wie ſich aus Einem Werk des Sopho- kles ſein ganzer Geiſt ahnden ließe. Sie ſteht in dem ſpaniſchen Theater, überſetzt von A. W. Schlegel, der zu ſeinem großen Verdienſt, zuerſt eine ächte Ueberſetzung des Shakeſpeare gegeben zu haben, auch noch dieſes hinzugefügt hat, den Calderon in deutſcher Sprache erſcheinen zu laſſen. Was ich alſo über Calderon ſagen kann, bezieht ſich auch bloß auf dieſes Werk. Es wäre zu dreiſt, daraus ein Urtheil über die ganze Kunſt dieſes großen Geiſtes zu formiren. Was aber in dieſem Einen klar vorliegt, iſt Folgendes. Man könnte auf den erſten Blick geneigt ſeyn, den Calderon den ſüdlichen, vielleicht katholiſchen Shakeſpeare zu nennen, allein es iſt mehr als das, was beide Dichter unterſcheidet. Das Erſte und gleich- ſam der Grund des ganzen Gebäudes ſeiner Kunſt iſt freilich, was ihm die katholiſche Religion gegeben hat, zu deren Anſchauungen des Univer- ſums und der göttlichen Ordnung der Dinge es weſentlich gehört, daß die Sünde ſey und der Sünder, damit an ihnen Gott durch Vermitt- lung der Kirche ſeine Gnade beweiſe. Damit iſt eine allgemeine Nothwendigkeit der Sünde eingeführt, und in dem vorliegenden Stück des Calderon entwickelt ſich das ganze Schickſal ans einer Art göttlicher Schickung. Euſebio, der Held der Tragödie, iſt der unbewußte und unerkannte Sohn eines Curtio, deſſen Tochter Julia von derſelben Mutter zugleich mit ihm unter einem wunderthätigen Kreuz im Walde geboren iſt, nachdem der Vater aus ungerechtem Verdacht die Mutter

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 726. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/402>, abgerufen am 22.11.2024.