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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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an derselben Stelle zu ermorden gesucht hatte. Die Mutter wird durch
ein Wunder des Kreuzes aus dem Wald in ihr Haus entrückt, wo sie
Curtio, in der Meinung zurückkommend, daß sie ermordet sey, lebendig
nebst der holden Tochter, Julia, findet. Der Knabe Eusebio war bei
dem Kreuz zurückgeblieben und fiel einem wackern Mann in die Hände,
der ihn erzog; die Mutter erinnert sich nur dunkel, zwei Kinder geboren
zu haben. Dieß ist der Grund der Geschichte, der aber in der Tragödie
selbst nur historisch vorkommt, die erste Synthese, mit der alles gegeben ist.

Eusebio, der Vater und Schwester nicht erkennt (denn die Mutter
ist seitdem gestorben) liebt Julia; hieraus entwickelt sich das ganze
Schicksal beider. Dieses Schicksal und die folgenden Unthaten beider
sind an die göttliche Fügung zurückgewiesen, die gewollt hat, daß
Eusebio nach der Geburt bei dem Kreuze zurückbliebe. Zugleich ist
das der christlichen Religion zwar nicht ausschließlich eigenthümliche,
aber bestimmt auch in ihr geltende Schicksal eingeführt, daß sich die
Schuld der Väter an den Kindern rächt bis ins dritte und vierte Glied
(denn auch das Geschlecht des Oedipus verfolgt der Fluch des Vaters,
wie das der Pelopiden die Gräuel der Ahnherrn), auch hierdurch ist
die Schuld, als subjektive, von dem Helden hinweggenommen, und an
die Nothwendigkeit gewiesen.

Die erste Folge der Liebe zu Julia ist, daß Lisardo, ein älterer
Bruder, von Eusebio deßhalb Genugthuung fordert, daß er, der ohne
Namen und Eltern, gewagt ein Liebesverhältniß mit Julia anzuknü-
pfen. Lisardo fällt; dieß ist der Beginn der Tragödie, deren erste Ent-
wicklung durch mehrere Zwischenfälle die ist, daß Julia sich in das
Kloster begibt, Eusebio aber, der durch Verbrechen ohn' Ende sein
unendliches Leiden rächen will, Anführer einer Räuberbande wird.
Mitten in diesem Verderben sendet ihm der Himmel den künftigen
Retter seiner Seele, den Bischof Alberto von Trident, dem er das
Leben rettet, und der ihm dafür verheißt in Todesnoth ihm nahe zu
seyn und seine Beichte zu hören.

Eusebio und Julia stehen beide unter der besonderen Obhut des
wunderthätigen Kreuzes, mit dessen Bild beide von Natur auf der Brust

an derſelben Stelle zu ermorden geſucht hatte. Die Mutter wird durch
ein Wunder des Kreuzes aus dem Wald in ihr Haus entrückt, wo ſie
Curtio, in der Meinung zurückkommend, daß ſie ermordet ſey, lebendig
nebſt der holden Tochter, Julia, findet. Der Knabe Euſebio war bei
dem Kreuz zurückgeblieben und fiel einem wackern Mann in die Hände,
der ihn erzog; die Mutter erinnert ſich nur dunkel, zwei Kinder geboren
zu haben. Dieß iſt der Grund der Geſchichte, der aber in der Tragödie
ſelbſt nur hiſtoriſch vorkommt, die erſte Syntheſe, mit der alles gegeben iſt.

Euſebio, der Vater und Schweſter nicht erkennt (denn die Mutter
iſt ſeitdem geſtorben) liebt Julia; hieraus entwickelt ſich das ganze
Schickſal beider. Dieſes Schickſal und die folgenden Unthaten beider
ſind an die göttliche Fügung zurückgewieſen, die gewollt hat, daß
Euſebio nach der Geburt bei dem Kreuze zurückbliebe. Zugleich iſt
das der chriſtlichen Religion zwar nicht ausſchließlich eigenthümliche,
aber beſtimmt auch in ihr geltende Schickſal eingeführt, daß ſich die
Schuld der Väter an den Kindern rächt bis ins dritte und vierte Glied
(denn auch das Geſchlecht des Oedipus verfolgt der Fluch des Vaters,
wie das der Pelopiden die Gräuel der Ahnherrn), auch hierdurch iſt
die Schuld, als ſubjektive, von dem Helden hinweggenommen, und an
die Nothwendigkeit gewieſen.

Die erſte Folge der Liebe zu Julia iſt, daß Liſardo, ein älterer
Bruder, von Euſebio deßhalb Genugthuung fordert, daß er, der ohne
Namen und Eltern, gewagt ein Liebesverhältniß mit Julia anzuknü-
pfen. Liſardo fällt; dieß iſt der Beginn der Tragödie, deren erſte Ent-
wicklung durch mehrere Zwiſchenfälle die iſt, daß Julia ſich in das
Kloſter begibt, Euſebio aber, der durch Verbrechen ohn’ Ende ſein
unendliches Leiden rächen will, Anführer einer Räuberbande wird.
Mitten in dieſem Verderben ſendet ihm der Himmel den künftigen
Retter ſeiner Seele, den Biſchof Alberto von Trident, dem er das
Leben rettet, und der ihm dafür verheißt in Todesnoth ihm nahe zu
ſeyn und ſeine Beichte zu hören.

Euſebio und Julia ſtehen beide unter der beſonderen Obhut des
wunderthätigen Kreuzes, mit deſſen Bild beide von Natur auf der Bruſt

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[727/0403] an derſelben Stelle zu ermorden geſucht hatte. Die Mutter wird durch ein Wunder des Kreuzes aus dem Wald in ihr Haus entrückt, wo ſie Curtio, in der Meinung zurückkommend, daß ſie ermordet ſey, lebendig nebſt der holden Tochter, Julia, findet. Der Knabe Euſebio war bei dem Kreuz zurückgeblieben und fiel einem wackern Mann in die Hände, der ihn erzog; die Mutter erinnert ſich nur dunkel, zwei Kinder geboren zu haben. Dieß iſt der Grund der Geſchichte, der aber in der Tragödie ſelbſt nur hiſtoriſch vorkommt, die erſte Syntheſe, mit der alles gegeben iſt. Euſebio, der Vater und Schweſter nicht erkennt (denn die Mutter iſt ſeitdem geſtorben) liebt Julia; hieraus entwickelt ſich das ganze Schickſal beider. Dieſes Schickſal und die folgenden Unthaten beider ſind an die göttliche Fügung zurückgewieſen, die gewollt hat, daß Euſebio nach der Geburt bei dem Kreuze zurückbliebe. Zugleich iſt das der chriſtlichen Religion zwar nicht ausſchließlich eigenthümliche, aber beſtimmt auch in ihr geltende Schickſal eingeführt, daß ſich die Schuld der Väter an den Kindern rächt bis ins dritte und vierte Glied (denn auch das Geſchlecht des Oedipus verfolgt der Fluch des Vaters, wie das der Pelopiden die Gräuel der Ahnherrn), auch hierdurch iſt die Schuld, als ſubjektive, von dem Helden hinweggenommen, und an die Nothwendigkeit gewieſen. Die erſte Folge der Liebe zu Julia iſt, daß Liſardo, ein älterer Bruder, von Euſebio deßhalb Genugthuung fordert, daß er, der ohne Namen und Eltern, gewagt ein Liebesverhältniß mit Julia anzuknü- pfen. Liſardo fällt; dieß iſt der Beginn der Tragödie, deren erſte Ent- wicklung durch mehrere Zwiſchenfälle die iſt, daß Julia ſich in das Kloſter begibt, Euſebio aber, der durch Verbrechen ohn’ Ende ſein unendliches Leiden rächen will, Anführer einer Räuberbande wird. Mitten in dieſem Verderben ſendet ihm der Himmel den künftigen Retter ſeiner Seele, den Biſchof Alberto von Trident, dem er das Leben rettet, und der ihm dafür verheißt in Todesnoth ihm nahe zu ſeyn und ſeine Beichte zu hören. Euſebio und Julia ſtehen beide unter der beſonderen Obhut des wunderthätigen Kreuzes, mit deſſen Bild beide von Natur auf der Bruſt

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 727. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/403>, abgerufen am 22.11.2024.