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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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irgend etwas anderes als die Größe und freiwillige Uebernahme und
Erhebung des Gemüths gemildert werden könnte. (Hauptmotiv der Ver-
söhnung die Religion, wie im Oedipus auf Kolonos. Höchste Ver-
klärung wie ihn der Gott ruft: Horch, horch, Oedipus, warum zauderst
du, und er dann den Augen der Sterblichen verschwindet.)

Ich gehe nun zur äußeren Form der Tragödie fort.

Daß also die Tragödie nicht eine Erzählung, sondern die wirklich-
objektive Handlung selbst seyn müsse, ergibt sich aus dem ersten Begriff.
Aber aus diesem folgt auch mit strenger Nothwendigkeit die übrige Ge-
setzmäßigkeit der äußeren Form. Die Handlung, wenn sie erzählt
wird, geht durch das Denken hindurch, welches seiner Natur nach das
freiste ist, und worin auch Entferntes sich unmittelbar berührt. Die
Handlung, die objektiv-wirklich vorgestellt wird, wird angeschaut, und
muß sich also auch den Gesetzen der Anschauung fügen. Diese aber
verlangt nothwendig die Stetigkeit. Stetigkeit der Handlung ist demnach
die nothwendige Eigenschaft jedes rationalen Dramas. Mit Veränderung
derselben muß zugleich eine Veränderung in der ganzen übrigen Confor-
mation desselben eintreten: daher es freilich thöricht ist, sich an dieses
Gesetz der alten Tragödie zu binden, wenn man ihr in keinem anderen
Zug auch nur von ferne nahe kommen kann, wie die Franzosen in ihren
Stücken, die sie abusive Tragödien nennen, die Stetigkeit der Zeit zu
beobachten. Aber die französische Bühne beobachtet sie nicht einmal,
außer inwiefern sie ganz bloß beschränkend ist, dadurch, daß der Dichter
zwischen den Aufzügen Zeit verfließen läßt. Die Stetigkeit der Hand-
lung in diesem Fall aufheben, während man sie in anderer Rücksicht
beobachten will, heißt nur Dürftigkeit und das Unvermögen verrathen,
eine große Handlung concentrisch, gleichsam um einen und denselben
Punkt geschehen zu lassen.

Die Stetigkeit der Zeit ist eigentlich von den drei Einheiten, die
Aristoteles gibt, die herrschende. Denn, was die sogenannte Einheit
des Orts betrifft, so braucht diese bloß insofern stattzufinden, als sie
für die Stetigkeit der Zeit nothwendig ist, und unter den wenigen uns
übrig gebliebenen Tragödien der Alten existirt doch -- und zwar in

irgend etwas anderes als die Größe und freiwillige Uebernahme und
Erhebung des Gemüths gemildert werden könnte. (Hauptmotiv der Ver-
ſöhnung die Religion, wie im Oedipus auf Kolonos. Höchſte Ver-
klärung wie ihn der Gott ruft: Horch, horch, Oedipus, warum zauderſt
du, und er dann den Augen der Sterblichen verſchwindet.)

Ich gehe nun zur äußeren Form der Tragödie fort.

Daß alſo die Tragödie nicht eine Erzählung, ſondern die wirklich-
objektive Handlung ſelbſt ſeyn müſſe, ergibt ſich aus dem erſten Begriff.
Aber aus dieſem folgt auch mit ſtrenger Nothwendigkeit die übrige Ge-
ſetzmäßigkeit der äußeren Form. Die Handlung, wenn ſie erzählt
wird, geht durch das Denken hindurch, welches ſeiner Natur nach das
freiſte iſt, und worin auch Entferntes ſich unmittelbar berührt. Die
Handlung, die objektiv-wirklich vorgeſtellt wird, wird angeſchaut, und
muß ſich alſo auch den Geſetzen der Anſchauung fügen. Dieſe aber
verlangt nothwendig die Stetigkeit. Stetigkeit der Handlung iſt demnach
die nothwendige Eigenſchaft jedes rationalen Dramas. Mit Veränderung
derſelben muß zugleich eine Veränderung in der ganzen übrigen Confor-
mation deſſelben eintreten: daher es freilich thöricht iſt, ſich an dieſes
Geſetz der alten Tragödie zu binden, wenn man ihr in keinem anderen
Zug auch nur von ferne nahe kommen kann, wie die Franzoſen in ihren
Stücken, die ſie abusive Tragödien nennen, die Stetigkeit der Zeit zu
beobachten. Aber die franzöſiſche Bühne beobachtet ſie nicht einmal,
außer inwiefern ſie ganz bloß beſchränkend iſt, dadurch, daß der Dichter
zwiſchen den Aufzügen Zeit verfließen läßt. Die Stetigkeit der Hand-
lung in dieſem Fall aufheben, während man ſie in anderer Rückſicht
beobachten will, heißt nur Dürftigkeit und das Unvermögen verrathen,
eine große Handlung concentriſch, gleichſam um einen und denſelben
Punkt geſchehen zu laſſen.

Die Stetigkeit der Zeit iſt eigentlich von den drei Einheiten, die
Ariſtoteles gibt, die herrſchende. Denn, was die ſogenannte Einheit
des Orts betrifft, ſo braucht dieſe bloß inſofern ſtattzufinden, als ſie
für die Stetigkeit der Zeit nothwendig iſt, und unter den wenigen uns
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[704/0380] irgend etwas anderes als die Größe und freiwillige Uebernahme und Erhebung des Gemüths gemildert werden könnte. (Hauptmotiv der Ver- ſöhnung die Religion, wie im Oedipus auf Kolonos. Höchſte Ver- klärung wie ihn der Gott ruft: Horch, horch, Oedipus, warum zauderſt du, und er dann den Augen der Sterblichen verſchwindet.) Ich gehe nun zur äußeren Form der Tragödie fort. Daß alſo die Tragödie nicht eine Erzählung, ſondern die wirklich- objektive Handlung ſelbſt ſeyn müſſe, ergibt ſich aus dem erſten Begriff. Aber aus dieſem folgt auch mit ſtrenger Nothwendigkeit die übrige Ge- ſetzmäßigkeit der äußeren Form. Die Handlung, wenn ſie erzählt wird, geht durch das Denken hindurch, welches ſeiner Natur nach das freiſte iſt, und worin auch Entferntes ſich unmittelbar berührt. Die Handlung, die objektiv-wirklich vorgeſtellt wird, wird angeſchaut, und muß ſich alſo auch den Geſetzen der Anſchauung fügen. Dieſe aber verlangt nothwendig die Stetigkeit. Stetigkeit der Handlung iſt demnach die nothwendige Eigenſchaft jedes rationalen Dramas. Mit Veränderung derſelben muß zugleich eine Veränderung in der ganzen übrigen Confor- mation deſſelben eintreten: daher es freilich thöricht iſt, ſich an dieſes Geſetz der alten Tragödie zu binden, wenn man ihr in keinem anderen Zug auch nur von ferne nahe kommen kann, wie die Franzoſen in ihren Stücken, die ſie abusive Tragödien nennen, die Stetigkeit der Zeit zu beobachten. Aber die franzöſiſche Bühne beobachtet ſie nicht einmal, außer inwiefern ſie ganz bloß beſchränkend iſt, dadurch, daß der Dichter zwiſchen den Aufzügen Zeit verfließen läßt. Die Stetigkeit der Hand- lung in dieſem Fall aufheben, während man ſie in anderer Rückſicht beobachten will, heißt nur Dürftigkeit und das Unvermögen verrathen, eine große Handlung concentriſch, gleichſam um einen und denſelben Punkt geſchehen zu laſſen. Die Stetigkeit der Zeit iſt eigentlich von den drei Einheiten, die Ariſtoteles gibt, die herrſchende. Denn, was die ſogenannte Einheit des Orts betrifft, ſo braucht dieſe bloß inſofern ſtattzufinden, als ſie für die Stetigkeit der Zeit nothwendig iſt, und unter den wenigen uns übrig gebliebenen Tragödien der Alten exiſtirt doch — und zwar in

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 704. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/380>, abgerufen am 22.11.2024.