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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Sophokles selbst (im Ajax nämlich) -- das Beispiel einer nothwendigen
Veränderung des Orts.

Die äußere Stetigkeit der Handlung, welche zur vollkommensten
Erscheinung der Tragödie gehört, was auch moderne Kunstrichter aus
übelverstandenem Eifer gegen die übelverstandene Einheit der Zeit in den
französischen Stücken und gegen ihre übrige Bornirtheit dawider vorge-
bracht haben mögen, ist nur die äußere Erscheinung der inneren Stetigkeit
und Einheit der Handlung selbst. Diese kann nun schon ihrer Natur
nach nicht stattfinden, als inwiefern die Zufälligkeiten einer wirklich, em-
pirisch geschehenen Handlung und ihre Begleitung aufgehoben werden.
Nur durch Darstellung des Wesentlichen, gleichsam des reinen Rhythmus
der Handlung, ohne alle Breitheit der Umstände und des zugleich mit
der Haupthandlung Vorgehenden, wird die wahrhaft plastische Vollendung
im Drama erreicht.

Die herrlichste und durchaus von der erhabensten Kunst einge-
gebene Erfindung ist in dieser Beziehung der Chor der griechischen
Tragödie. Ich nenne ihn eine hohe Erfindung, weil er den groben
Sinnen nicht schmeichelt, von dem gemeinen Verlangen nach Täuschung
gänzlich hinweg- und den Zuschauer unmittelbar auf das höhere Gebiet
der wahren Kunst und der symbolischen Darstellung erhebt. Der Chor
der griechischen Tragödie schließt zwar mehrfache Wirkungen ein, die
vornehmste aber ist, daß er die Zufälligkeiten der Begleitung aufhebt,
da natürlicher Weise keine Handlung vorgehen kann, die nicht außer
den mithandelnden Personen auch noch andere hätte, die sich in Bezug
auf die Haupthandlung unthätig verhalten. Diese bloß zuschauen oder
bloße Nebendienste verrichten zu lassen, würde die Handlung, die
gleichsam in jedem Punkt wie eine volle Blüthe, fruchtbar und schwanger
seyn soll, leer lassen. Sollte nun dieser Uebelstand realistisch aufge-
hoben werden, so mußte auch in diese Nebenpersonen ein Gewicht ge-
legt und dem Ganzen dadurch die Breitheit gegeben werden, welche die
Tragödie der Neueren hat. Die Alten nehmen dieses Verhältniß idea-
listischer, symbolisch. Sie verwandelten die Begleitung in den Chor,
und gaben diesem in ihren Tragödien eine wahre, d. h. poetische

Schelling, sämmtl. Werke. 1. Abth. V. 45

Sophokles ſelbſt (im Ajax nämlich) — das Beiſpiel einer nothwendigen
Veränderung des Orts.

Die äußere Stetigkeit der Handlung, welche zur vollkommenſten
Erſcheinung der Tragödie gehört, was auch moderne Kunſtrichter aus
übelverſtandenem Eifer gegen die übelverſtandene Einheit der Zeit in den
franzöſiſchen Stücken und gegen ihre übrige Bornirtheit dawider vorge-
bracht haben mögen, iſt nur die äußere Erſcheinung der inneren Stetigkeit
und Einheit der Handlung ſelbſt. Dieſe kann nun ſchon ihrer Natur
nach nicht ſtattfinden, als inwiefern die Zufälligkeiten einer wirklich, em-
piriſch geſchehenen Handlung und ihre Begleitung aufgehoben werden.
Nur durch Darſtellung des Weſentlichen, gleichſam des reinen Rhythmus
der Handlung, ohne alle Breitheit der Umſtände und des zugleich mit
der Haupthandlung Vorgehenden, wird die wahrhaft plaſtiſche Vollendung
im Drama erreicht.

Die herrlichſte und durchaus von der erhabenſten Kunſt einge-
gebene Erfindung iſt in dieſer Beziehung der Chor der griechiſchen
Tragödie. Ich nenne ihn eine hohe Erfindung, weil er den groben
Sinnen nicht ſchmeichelt, von dem gemeinen Verlangen nach Täuſchung
gänzlich hinweg- und den Zuſchauer unmittelbar auf das höhere Gebiet
der wahren Kunſt und der ſymboliſchen Darſtellung erhebt. Der Chor
der griechiſchen Tragödie ſchließt zwar mehrfache Wirkungen ein, die
vornehmſte aber iſt, daß er die Zufälligkeiten der Begleitung aufhebt,
da natürlicher Weiſe keine Handlung vorgehen kann, die nicht außer
den mithandelnden Perſonen auch noch andere hätte, die ſich in Bezug
auf die Haupthandlung unthätig verhalten. Dieſe bloß zuſchauen oder
bloße Nebendienſte verrichten zu laſſen, würde die Handlung, die
gleichſam in jedem Punkt wie eine volle Blüthe, fruchtbar und ſchwanger
ſeyn ſoll, leer laſſen. Sollte nun dieſer Uebelſtand realiſtiſch aufge-
hoben werden, ſo mußte auch in dieſe Nebenperſonen ein Gewicht ge-
legt und dem Ganzen dadurch die Breitheit gegeben werden, welche die
Tragödie der Neueren hat. Die Alten nehmen dieſes Verhältniß idea-
liſtiſcher, ſymboliſch. Sie verwandelten die Begleitung in den Chor,
und gaben dieſem in ihren Tragödien eine wahre, d. h. poetiſche

Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 45
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[705/0381] Sophokles ſelbſt (im Ajax nämlich) — das Beiſpiel einer nothwendigen Veränderung des Orts. Die äußere Stetigkeit der Handlung, welche zur vollkommenſten Erſcheinung der Tragödie gehört, was auch moderne Kunſtrichter aus übelverſtandenem Eifer gegen die übelverſtandene Einheit der Zeit in den franzöſiſchen Stücken und gegen ihre übrige Bornirtheit dawider vorge- bracht haben mögen, iſt nur die äußere Erſcheinung der inneren Stetigkeit und Einheit der Handlung ſelbſt. Dieſe kann nun ſchon ihrer Natur nach nicht ſtattfinden, als inwiefern die Zufälligkeiten einer wirklich, em- piriſch geſchehenen Handlung und ihre Begleitung aufgehoben werden. Nur durch Darſtellung des Weſentlichen, gleichſam des reinen Rhythmus der Handlung, ohne alle Breitheit der Umſtände und des zugleich mit der Haupthandlung Vorgehenden, wird die wahrhaft plaſtiſche Vollendung im Drama erreicht. Die herrlichſte und durchaus von der erhabenſten Kunſt einge- gebene Erfindung iſt in dieſer Beziehung der Chor der griechiſchen Tragödie. Ich nenne ihn eine hohe Erfindung, weil er den groben Sinnen nicht ſchmeichelt, von dem gemeinen Verlangen nach Täuſchung gänzlich hinweg- und den Zuſchauer unmittelbar auf das höhere Gebiet der wahren Kunſt und der ſymboliſchen Darſtellung erhebt. Der Chor der griechiſchen Tragödie ſchließt zwar mehrfache Wirkungen ein, die vornehmſte aber iſt, daß er die Zufälligkeiten der Begleitung aufhebt, da natürlicher Weiſe keine Handlung vorgehen kann, die nicht außer den mithandelnden Perſonen auch noch andere hätte, die ſich in Bezug auf die Haupthandlung unthätig verhalten. Dieſe bloß zuſchauen oder bloße Nebendienſte verrichten zu laſſen, würde die Handlung, die gleichſam in jedem Punkt wie eine volle Blüthe, fruchtbar und ſchwanger ſeyn ſoll, leer laſſen. Sollte nun dieſer Uebelſtand realiſtiſch aufge- hoben werden, ſo mußte auch in dieſe Nebenperſonen ein Gewicht ge- legt und dem Ganzen dadurch die Breitheit gegeben werden, welche die Tragödie der Neueren hat. Die Alten nehmen dieſes Verhältniß idea- liſtiſcher, ſymboliſch. Sie verwandelten die Begleitung in den Chor, und gaben dieſem in ihren Tragödien eine wahre, d. h. poetiſche Schelling, ſämmtl. Werke. 1. Abth. V. 45

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 705. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/381>, abgerufen am 18.05.2024.