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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Wie kann man den unglücklich nennen, der so weit vollendet ist,
der Glück und Unglück gleicherweise ablegt und in demjenigen Zustand
der Seele ist, wo es für ihn keines von beiden mehr ist?

Unglück ist nur, so lange der Wille der Nothwendigkeit noch
nicht entschieden und offenbar ist. Sobald der Held selbst im Klaren
ist, und sein Geschick offen vor ihm daliegt, gibt es für ihn keinen
Zweifel mehr, oder wenigstens darf es für ihn keinen mehr geben, und
eben im Moment des höchsten Leidens geht er zur höchsten Befreiung
und die höchste Leidenslosigkeit über. Von dem Augenblick an erscheint
die nicht zu überwältigende Macht des Schicksals, die absolut-groß
schien, nur noch relativ-groß; denn sie wird von dem Willen über-
wunden, und zum Symbol des absolut Großen, nämlich der erhabenen
Gesinnung.

Die tragische Wirkung beruht daher keineswegs allein oder zunächst
auf dem, was man den unglücklichen Ausgang zu nennen pflegt. Die
Tragödie kann auch mit vollkommener Versöhnung nicht nur mit dem Schick-
sal, sondern selbst mit dem Leben enden, wie Orest in den Eumeniden des
Aeschylos versöhnt wird. Auch Orest war durch das Schicksal und den
Willen eines Gottes, nämlich Apollos, zum Verbrecher bestimmt. Aber
diese Schuldlosigkeit nimmt die Strafe nicht hinweg; er entflieht aus dem
väterlichen Hause und erblickt gleich unmittelbar die Eumeniden, die ihn
selbst bis in den geheiligten Tempel des Apollon verfolgen, wo sie, die
schlafen, der Schatten der Klytämnestra erweckt. Die Schuld kann nur
durch wirkliche Sühnung von ihm genommen werden, und auch der
Areopag, an welchen Apoll ihn verweist, und vor dem er selbst ihm
beisteht, muß gleiche Stimmen in die beiden Urnen legen, damit die
Gleichheit der Nothwendigkeit und der Freiheit vor der sittlichen Stim-
mung bewahrt werde. Nur der weiße Stein, den Pallas der Los-
sprechungsurne zuwirft, befreit ihn, aber auch dieses nicht, ohne daß
zugleich die Göttinnen des Schicksals und der Nothwendigkeit, die
rächenden Erinnyen, versöhnt und von nun an unter dem Volk der
Athene als göttliche Mächte verehrt werden und in ihrer Stadt selbst
und gegenüber von der Burg, auf der sie thront, einen Tempel haben.

Wie kann man den unglücklich nennen, der ſo weit vollendet iſt,
der Glück und Unglück gleicherweiſe ablegt und in demjenigen Zuſtand
der Seele iſt, wo es für ihn keines von beiden mehr iſt?

Unglück iſt nur, ſo lange der Wille der Nothwendigkeit noch
nicht entſchieden und offenbar iſt. Sobald der Held ſelbſt im Klaren
iſt, und ſein Geſchick offen vor ihm daliegt, gibt es für ihn keinen
Zweifel mehr, oder wenigſtens darf es für ihn keinen mehr geben, und
eben im Moment des höchſten Leidens geht er zur höchſten Befreiung
und die höchſte Leidensloſigkeit über. Von dem Augenblick an erſcheint
die nicht zu überwältigende Macht des Schickſals, die abſolut-groß
ſchien, nur noch relativ-groß; denn ſie wird von dem Willen über-
wunden, und zum Symbol des abſolut Großen, nämlich der erhabenen
Geſinnung.

Die tragiſche Wirkung beruht daher keineswegs allein oder zunächſt
auf dem, was man den unglücklichen Ausgang zu nennen pflegt. Die
Tragödie kann auch mit vollkommener Verſöhnung nicht nur mit dem Schick-
ſal, ſondern ſelbſt mit dem Leben enden, wie Oreſt in den Eumeniden des
Aeſchylos verſöhnt wird. Auch Oreſt war durch das Schickſal und den
Willen eines Gottes, nämlich Apollos, zum Verbrecher beſtimmt. Aber
dieſe Schuldloſigkeit nimmt die Strafe nicht hinweg; er entflieht aus dem
väterlichen Hauſe und erblickt gleich unmittelbar die Eumeniden, die ihn
ſelbſt bis in den geheiligten Tempel des Apollon verfolgen, wo ſie, die
ſchlafen, der Schatten der Klytämneſtra erweckt. Die Schuld kann nur
durch wirkliche Sühnung von ihm genommen werden, und auch der
Areopag, an welchen Apoll ihn verweist, und vor dem er ſelbſt ihm
beiſteht, muß gleiche Stimmen in die beiden Urnen legen, damit die
Gleichheit der Nothwendigkeit und der Freiheit vor der ſittlichen Stim-
mung bewahrt werde. Nur der weiße Stein, den Pallas der Los-
ſprechungsurne zuwirft, befreit ihn, aber auch dieſes nicht, ohne daß
zugleich die Göttinnen des Schickſals und der Nothwendigkeit, die
rächenden Erinnyen, verſöhnt und von nun an unter dem Volk der
Athene als göttliche Mächte verehrt werden und in ihrer Stadt ſelbſt
und gegenüber von der Burg, auf der ſie thront, einen Tempel haben.

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[698/0374] Wie kann man den unglücklich nennen, der ſo weit vollendet iſt, der Glück und Unglück gleicherweiſe ablegt und in demjenigen Zuſtand der Seele iſt, wo es für ihn keines von beiden mehr iſt? Unglück iſt nur, ſo lange der Wille der Nothwendigkeit noch nicht entſchieden und offenbar iſt. Sobald der Held ſelbſt im Klaren iſt, und ſein Geſchick offen vor ihm daliegt, gibt es für ihn keinen Zweifel mehr, oder wenigſtens darf es für ihn keinen mehr geben, und eben im Moment des höchſten Leidens geht er zur höchſten Befreiung und die höchſte Leidensloſigkeit über. Von dem Augenblick an erſcheint die nicht zu überwältigende Macht des Schickſals, die abſolut-groß ſchien, nur noch relativ-groß; denn ſie wird von dem Willen über- wunden, und zum Symbol des abſolut Großen, nämlich der erhabenen Geſinnung. Die tragiſche Wirkung beruht daher keineswegs allein oder zunächſt auf dem, was man den unglücklichen Ausgang zu nennen pflegt. Die Tragödie kann auch mit vollkommener Verſöhnung nicht nur mit dem Schick- ſal, ſondern ſelbſt mit dem Leben enden, wie Oreſt in den Eumeniden des Aeſchylos verſöhnt wird. Auch Oreſt war durch das Schickſal und den Willen eines Gottes, nämlich Apollos, zum Verbrecher beſtimmt. Aber dieſe Schuldloſigkeit nimmt die Strafe nicht hinweg; er entflieht aus dem väterlichen Hauſe und erblickt gleich unmittelbar die Eumeniden, die ihn ſelbſt bis in den geheiligten Tempel des Apollon verfolgen, wo ſie, die ſchlafen, der Schatten der Klytämneſtra erweckt. Die Schuld kann nur durch wirkliche Sühnung von ihm genommen werden, und auch der Areopag, an welchen Apoll ihn verweist, und vor dem er ſelbſt ihm beiſteht, muß gleiche Stimmen in die beiden Urnen legen, damit die Gleichheit der Nothwendigkeit und der Freiheit vor der ſittlichen Stim- mung bewahrt werde. Nur der weiße Stein, den Pallas der Los- ſprechungsurne zuwirft, befreit ihn, aber auch dieſes nicht, ohne daß zugleich die Göttinnen des Schickſals und der Nothwendigkeit, die rächenden Erinnyen, verſöhnt und von nun an unter dem Volk der Athene als göttliche Mächte verehrt werden und in ihrer Stadt ſelbſt und gegenüber von der Burg, auf der ſie thront, einen Tempel haben.

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 698. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/374>, abgerufen am 22.11.2024.