Ein solches Gleichgewicht des Rechts und der Menschlichkeit, der Nothwendigkeit und der Freiheit suchten die Griechen in ihren Tragödien, ohne welches sie ihren sittlichen Sinn nicht befriedigen konnten, sowie sich in diesem Gleichgewicht selbst die höchste Sittlichkeit ausgedrückt hat. Eben dieses Gleichgewicht ist die Hauptsache der Tragödie. Daß das überlegte und freie Verbrechen gestraft wird, ist nicht tragisch. Daß ein Schuldloser durch Schickung unvermeidlich fortan schuldig werde, ist, wie gesagt, an sich das höchste denkbare Unglück. Aber daß dieser schuldlose Schuldige freiwillig die Strafe übernimmt, dieß ist das Erhabene in der Tragödie, dadurch erst verklärt sich die Freiheit zur höchsten Identität mit der Nothwendigkeit.
Nachdem wir das Wesen und den wahren Gegenstand der Tragödie durch das Bisherige bestimmt haben, so ist es nöthig, zunächst von der inneren Construktion der Tragödie, und alsdann von der äußeren Form derselben zu handeln.
Da dasjenige, was in der Tragödie der Freiheit entgegengesetzt wird, die Nothwendigkeit ist, so erhellt von selbst, daß in der Tragödie durchaus dem Zufall nichts zugegeben werden darf. Denn selbst die Freiheit, sofern sie die Verwicklung durch ihre Handlungen hervorbringt, erscheint doch in dieser Beziehung als durch Schicksal getrieben. Es könnte zufällig scheinen, daß Oedipus dem Lajos an einer bestimmten Stelle begegnet, allein wir sehen aus dem Verlauf, daß diese Begeben- heit zur Erfüllung des Schicksals nothwendig war. Inwiefern aber ihre Nothwendigkeit nur durch die Entwicklung kann eingesehen werden, in- sofern ist sie eigentlich auch nicht Theil der Tragödie und wird in die Vergangenheit verlegt. Uebrigens aber erscheint, im Oedipus z. B., alles, was zur Vollführung des in dem ersten Orakel Verkündeten gehört, eben durch diese Vorherverkündigung nothwendig und im Licht einer höheren Nothwendigkeit. Was aber die Handlungen der Freiheit betrifft, sofern diese erst auf die geschehenen Schläge des Schick- sals folgen, so sind auch diese nicht zufällig, eben deßwegen weil sie aus absoluter Freiheit geschehen, und die absolute Freiheit selbst absolute Nothwendigkeit ist.
Ein ſolches Gleichgewicht des Rechts und der Menſchlichkeit, der Nothwendigkeit und der Freiheit ſuchten die Griechen in ihren Tragödien, ohne welches ſie ihren ſittlichen Sinn nicht befriedigen konnten, ſowie ſich in dieſem Gleichgewicht ſelbſt die höchſte Sittlichkeit ausgedrückt hat. Eben dieſes Gleichgewicht iſt die Hauptſache der Tragödie. Daß das überlegte und freie Verbrechen geſtraft wird, iſt nicht tragiſch. Daß ein Schuldloſer durch Schickung unvermeidlich fortan ſchuldig werde, iſt, wie geſagt, an ſich das höchſte denkbare Unglück. Aber daß dieſer ſchuldloſe Schuldige freiwillig die Strafe übernimmt, dieß iſt das Erhabene in der Tragödie, dadurch erſt verklärt ſich die Freiheit zur höchſten Identität mit der Nothwendigkeit.
Nachdem wir das Weſen und den wahren Gegenſtand der Tragödie durch das Bisherige beſtimmt haben, ſo iſt es nöthig, zunächſt von der inneren Conſtruktion der Tragödie, und alsdann von der äußeren Form derſelben zu handeln.
Da dasjenige, was in der Tragödie der Freiheit entgegengeſetzt wird, die Nothwendigkeit iſt, ſo erhellt von ſelbſt, daß in der Tragödie durchaus dem Zufall nichts zugegeben werden darf. Denn ſelbſt die Freiheit, ſofern ſie die Verwicklung durch ihre Handlungen hervorbringt, erſcheint doch in dieſer Beziehung als durch Schickſal getrieben. Es könnte zufällig ſcheinen, daß Oedipus dem Lajos an einer beſtimmten Stelle begegnet, allein wir ſehen aus dem Verlauf, daß dieſe Begeben- heit zur Erfüllung des Schickſals nothwendig war. Inwiefern aber ihre Nothwendigkeit nur durch die Entwicklung kann eingeſehen werden, in- ſofern iſt ſie eigentlich auch nicht Theil der Tragödie und wird in die Vergangenheit verlegt. Uebrigens aber erſcheint, im Oedipus z. B., alles, was zur Vollführung des in dem erſten Orakel Verkündeten gehört, eben durch dieſe Vorherverkündigung nothwendig und im Licht einer höheren Nothwendigkeit. Was aber die Handlungen der Freiheit betrifft, ſofern dieſe erſt auf die geſchehenen Schläge des Schick- ſals folgen, ſo ſind auch dieſe nicht zufällig, eben deßwegen weil ſie aus abſoluter Freiheit geſchehen, und die abſolute Freiheit ſelbſt abſolute Nothwendigkeit iſt.
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ohne welches ſie ihren ſittlichen Sinn nicht befriedigen konnten, ſowie
ſich in dieſem Gleichgewicht ſelbſt die höchſte Sittlichkeit ausgedrückt hat.
Eben dieſes Gleichgewicht iſt die Hauptſache der Tragödie. Daß das
überlegte und freie Verbrechen geſtraft wird, iſt nicht tragiſch. Daß
ein Schuldloſer durch Schickung unvermeidlich fortan ſchuldig werde,
iſt, wie geſagt, an ſich das höchſte denkbare Unglück. Aber daß
dieſer ſchuldloſe Schuldige freiwillig die Strafe übernimmt, dieß iſt
das Erhabene in der Tragödie, dadurch erſt verklärt ſich die Freiheit
zur höchſten Identität mit der Nothwendigkeit.
Nachdem wir das Weſen und den wahren Gegenſtand der Tragödie
durch das Bisherige beſtimmt haben, ſo iſt es nöthig, zunächſt von der
inneren Conſtruktion der Tragödie, und alsdann von der äußeren
Form derſelben zu handeln.
Da dasjenige, was in der Tragödie der Freiheit entgegengeſetzt
wird, die Nothwendigkeit iſt, ſo erhellt von ſelbſt, daß in der Tragödie
durchaus dem Zufall nichts zugegeben werden darf. Denn ſelbſt die
Freiheit, ſofern ſie die Verwicklung durch ihre Handlungen hervorbringt,
erſcheint doch in dieſer Beziehung als durch Schickſal getrieben. Es
könnte zufällig ſcheinen, daß Oedipus dem Lajos an einer beſtimmten
Stelle begegnet, allein wir ſehen aus dem Verlauf, daß dieſe Begeben-
heit zur Erfüllung des Schickſals nothwendig war. Inwiefern aber ihre
Nothwendigkeit nur durch die Entwicklung kann eingeſehen werden, in-
ſofern iſt ſie eigentlich auch nicht Theil der Tragödie und wird in die
Vergangenheit verlegt. Uebrigens aber erſcheint, im Oedipus z. B.,
alles, was zur Vollführung des in dem erſten Orakel Verkündeten
gehört, eben durch dieſe Vorherverkündigung nothwendig und im
Licht einer höheren Nothwendigkeit. Was aber die Handlungen der
Freiheit betrifft, ſofern dieſe erſt auf die geſchehenen Schläge des Schick-
ſals folgen, ſo ſind auch dieſe nicht zufällig, eben deßwegen weil ſie
aus abſoluter Freiheit geſchehen, und die abſolute Freiheit ſelbſt abſolute
Nothwendigkeit iſt.
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 699. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/375>, abgerufen am 25.11.2024.
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