wird nur noch bestimmter in der Architektur selbst gefordert, und zwar wird sie zur vollkommensten Coincidenz mit dem Bau des mensch- lichen Leibs so gefordert, daß die Linie, welche die beiden symmetri- schen Hälften scheidet, nicht horizontal, sondern perpendikular, von oben nach unten, gehe. Diese Symmetrie wird an allen Werken der Bau- kunst, die Anspruch machen, schön zu seyn, so entschieden gefordert, als sie nur an der menschlichen Gestalt gefordert wird, und der Verstoß dagegen so wenig vertragen als ein schiefes Gesicht oder ein solches, das aus zwei gar nicht zu einander gehörigen Hälften zusammenge- setzt scheint.
Die zweite das organische Verhältniß andeutende Form ist die Vollendung des Ganzen und Einzelnen nach oben und unten.
Die Natur schließt keine ihrer Bildungen anders als durch eine ganz entschiedene Aufhebung der Succession oder reinen Länge, die sich durch eine concentrische Stellung andeutet. Die Pflanze würde ins Un- endliche nach der Länge fortsprossen, Knoten auf Knoten treiben -- und wirklich kann jede Pflanze durch übermäßigen Zufluß roher Säfte in diesem Sprossungszustand fortwährend erhalten werden -- wenn die Natur nicht einen Punkt erreichte, wo sie das, was sie zuvor successiv producirt, zumal producirt. So macht sie es bei dem Produciren der Blüthe in der Pflanze, sie bildet damit einen Kopf, ein bedeutendes Ende. Und auch im Thierreich folgt sie diesem Gesetz, sie schließt das Thier nach oben durch den Kopf, das Gehirn, und auch dieses Ende entsteht ihr nur dadurch, daß sie das, was sie zuvor (in den Nerven- knoten) successiv producirte, zumal producirt und ihm eine concentrische Stellung gibt. Dasselbe ist mehr oder weniger in den Formen der Architektur nachzuweisen.
Bereits ist erinnert worden, daß die Säule, die vorzüglich nach dem Schema der Pflanze gebildet ist, in der Architektur ausdrücklich auf die Pflanze selbst als die bloße Vorbedeutung, die Stütze des höheren Organischen hindeutet. Aber wie die Natur, wie die höhere Wissenschaft und Kunst selbst überall auch das, was Theil ist, wieder zum Ganzen und als Glied in diesem wieder für sich absolut zu machen
wird nur noch beſtimmter in der Architektur ſelbſt gefordert, und zwar wird ſie zur vollkommenſten Coincidenz mit dem Bau des menſch- lichen Leibs ſo gefordert, daß die Linie, welche die beiden ſymmetri- ſchen Hälften ſcheidet, nicht horizontal, ſondern perpendikular, von oben nach unten, gehe. Dieſe Symmetrie wird an allen Werken der Bau- kunſt, die Anſpruch machen, ſchön zu ſeyn, ſo entſchieden gefordert, als ſie nur an der menſchlichen Geſtalt gefordert wird, und der Verſtoß dagegen ſo wenig vertragen als ein ſchiefes Geſicht oder ein ſolches, das aus zwei gar nicht zu einander gehörigen Hälften zuſammenge- ſetzt ſcheint.
Die zweite das organiſche Verhältniß andeutende Form iſt die Vollendung des Ganzen und Einzelnen nach oben und unten.
Die Natur ſchließt keine ihrer Bildungen anders als durch eine ganz entſchiedene Aufhebung der Succeſſion oder reinen Länge, die ſich durch eine concentriſche Stellung andeutet. Die Pflanze würde ins Un- endliche nach der Länge fortſproſſen, Knoten auf Knoten treiben — und wirklich kann jede Pflanze durch übermäßigen Zufluß roher Säfte in dieſem Sproſſungszuſtand fortwährend erhalten werden — wenn die Natur nicht einen Punkt erreichte, wo ſie das, was ſie zuvor ſucceſſiv producirt, zumal producirt. So macht ſie es bei dem Produciren der Blüthe in der Pflanze, ſie bildet damit einen Kopf, ein bedeutendes Ende. Und auch im Thierreich folgt ſie dieſem Geſetz, ſie ſchließt das Thier nach oben durch den Kopf, das Gehirn, und auch dieſes Ende entſteht ihr nur dadurch, daß ſie das, was ſie zuvor (in den Nerven- knoten) ſucceſſiv producirte, zumal producirt und ihm eine concentriſche Stellung gibt. Daſſelbe iſt mehr oder weniger in den Formen der Architektur nachzuweiſen.
Bereits iſt erinnert worden, daß die Säule, die vorzüglich nach dem Schema der Pflanze gebildet iſt, in der Architektur ausdrücklich auf die Pflanze ſelbſt als die bloße Vorbedeutung, die Stütze des höheren Organiſchen hindeutet. Aber wie die Natur, wie die höhere Wiſſenſchaft und Kunſt ſelbſt überall auch das, was Theil iſt, wieder zum Ganzen und als Glied in dieſem wieder für ſich abſolut zu machen
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wird nur noch beſtimmter in der Architektur ſelbſt gefordert, und zwar
wird ſie zur vollkommenſten Coincidenz mit dem Bau des menſch-
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ſchen Hälften ſcheidet, nicht horizontal, ſondern perpendikular, von oben
nach unten, gehe. Dieſe Symmetrie wird an allen Werken der Bau-
kunſt, die Anſpruch machen, ſchön zu ſeyn, ſo entſchieden gefordert,
als ſie nur an der menſchlichen Geſtalt gefordert wird, und der Verſtoß
dagegen ſo wenig vertragen als ein ſchiefes Geſicht oder ein ſolches,
das aus zwei gar nicht zu einander gehörigen Hälften zuſammenge-
ſetzt ſcheint.
Die zweite das organiſche Verhältniß andeutende Form iſt die
Vollendung des Ganzen und Einzelnen nach oben und unten.
Die Natur ſchließt keine ihrer Bildungen anders als durch eine
ganz entſchiedene Aufhebung der Succeſſion oder reinen Länge, die ſich
durch eine concentriſche Stellung andeutet. Die Pflanze würde ins Un-
endliche nach der Länge fortſproſſen, Knoten auf Knoten treiben — und
wirklich kann jede Pflanze durch übermäßigen Zufluß roher Säfte in
dieſem Sproſſungszuſtand fortwährend erhalten werden — wenn die
Natur nicht einen Punkt erreichte, wo ſie das, was ſie zuvor ſucceſſiv
producirt, zumal producirt. So macht ſie es bei dem Produciren der
Blüthe in der Pflanze, ſie bildet damit einen Kopf, ein bedeutendes
Ende. Und auch im Thierreich folgt ſie dieſem Geſetz, ſie ſchließt das
Thier nach oben durch den Kopf, das Gehirn, und auch dieſes Ende
entſteht ihr nur dadurch, daß ſie das, was ſie zuvor (in den Nerven-
knoten) ſucceſſiv producirte, zumal producirt und ihm eine concentriſche
Stellung gibt. Daſſelbe iſt mehr oder weniger in den Formen der
Architektur nachzuweiſen.
Bereits iſt erinnert worden, daß die Säule, die vorzüglich nach
dem Schema der Pflanze gebildet iſt, in der Architektur ausdrücklich
auf die Pflanze ſelbſt als die bloße Vorbedeutung, die Stütze des
höheren Organiſchen hindeutet. Aber wie die Natur, wie die höhere
Wiſſenſchaft und Kunſt ſelbſt überall auch das, was Theil iſt, wieder
zum Ganzen und als Glied in dieſem wieder für ſich abſolut zu machen
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 588. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/264>, abgerufen am 22.11.2024.
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