Bildes mit dem Gegenstand beabsichtigt ist, entsteht das Portrait. Ueber den Kunstwerth oder -unwerth des Portraits hat man sich von Zeit zu Zeit gestritten; es scheint aber, daß man sich nur über den Begriff desselben zu verstehen habe, um auch über jenen einig zu seyn. Portrait, sagt man, ist sklavische Nachahmung der Natur, und allerdings, wenn man nicht die Kunst überhaupt in bloße Nachahmung setzen und die mikroskopischen Maler, die keinen Porus der Haut übergehen, für die größten erklären will, kann es nach diesem Begriff von Portrait kein Zweifel seyn, daß dasselbe einen sehr untergeordneten Rang ein- nehme. Versteht man aber unter Portrait eine solche Schilderung, die, indem sie die Natur nachahmt, zugleich die Dolmetscherin ihrer Bedeu- tung wird, das Innere der Gestalt herauskehrt und sichtbar macht, so wird man den bedeutenden Kunstwerth eines Portraits allerdings anerkennen müssen. Das Portraitiren als Kunst würde dann freilich vorzugsweise auf solche Gegenstände eingeschränkt werden müssen, denen wirklich eine symbolische Bedeutung abzusehen ist, und bei denen man sehen kann, daß die Natur einen vernünftigen Entwurf und gleichsam den Zweck, eine Idee auszudrücken, befolgt habe. Die wahre Kunst des Portraits würde darin bestehen, die auf die einzelnen Bewegungen und Momente des Lebens zerstreute Idee des Menschen in Einen Moment zusammen zu fassen, und auf diese Weise zu machen, daß das Portrait, indem es von der einen Seite durch Kunst veredelt ist, von der andern dem Menschen, d. h. der Idee des Menschen, ähnlicher sey, als er sich selbst in den einzelnen Momenten. Plinius 1 erzählt von dem Euphranor, daß er ein Bild des Paris gemalt (welches freilich kein Portrait war) von der Art, daß man in ihm zugleich den Richter der drei Göttinnen, den Entführer der Helena und denjenigen, der den Achill erlegte, erblicken konnte. Diese Darstellung des ganzen Menschen in den einzelnen Erscheinungen wäre die höchste, obgleich, wie man wohl sieht, schwierigste Aufgabe des Portraits. -- In Ansehung der Frage, ob die Person in Ruhe oder in Handlung dargestellt werden solle, ist
1Hist. nat. IV, 2.
Bildes mit dem Gegenſtand beabſichtigt iſt, entſteht das Portrait. Ueber den Kunſtwerth oder -unwerth des Portraits hat man ſich von Zeit zu Zeit geſtritten; es ſcheint aber, daß man ſich nur über den Begriff deſſelben zu verſtehen habe, um auch über jenen einig zu ſeyn. Portrait, ſagt man, iſt ſklaviſche Nachahmung der Natur, und allerdings, wenn man nicht die Kunſt überhaupt in bloße Nachahmung ſetzen und die mikroſkopiſchen Maler, die keinen Porus der Haut übergehen, für die größten erklären will, kann es nach dieſem Begriff von Portrait kein Zweifel ſeyn, daß daſſelbe einen ſehr untergeordneten Rang ein- nehme. Verſteht man aber unter Portrait eine ſolche Schilderung, die, indem ſie die Natur nachahmt, zugleich die Dolmetſcherin ihrer Bedeu- tung wird, das Innere der Geſtalt herauskehrt und ſichtbar macht, ſo wird man den bedeutenden Kunſtwerth eines Portraits allerdings anerkennen müſſen. Das Portraitiren als Kunſt würde dann freilich vorzugsweiſe auf ſolche Gegenſtände eingeſchränkt werden müſſen, denen wirklich eine ſymboliſche Bedeutung abzuſehen iſt, und bei denen man ſehen kann, daß die Natur einen vernünftigen Entwurf und gleichſam den Zweck, eine Idee auszudrücken, befolgt habe. Die wahre Kunſt des Portraits würde darin beſtehen, die auf die einzelnen Bewegungen und Momente des Lebens zerſtreute Idee des Menſchen in Einen Moment zuſammen zu faſſen, und auf dieſe Weiſe zu machen, daß das Portrait, indem es von der einen Seite durch Kunſt veredelt iſt, von der andern dem Menſchen, d. h. der Idee des Menſchen, ähnlicher ſey, als er ſich ſelbſt in den einzelnen Momenten. Plinius 1 erzählt von dem Euphranor, daß er ein Bild des Paris gemalt (welches freilich kein Portrait war) von der Art, daß man in ihm zugleich den Richter der drei Göttinnen, den Entführer der Helena und denjenigen, der den Achill erlegte, erblicken konnte. Dieſe Darſtellung des ganzen Menſchen in den einzelnen Erſcheinungen wäre die höchſte, obgleich, wie man wohl ſieht, ſchwierigſte Aufgabe des Portraits. — In Anſehung der Frage, ob die Perſon in Ruhe oder in Handlung dargeſtellt werden ſolle, iſt
1Hist. nat. IV, 2.
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Bildes mit dem Gegenſtand beabſichtigt iſt, entſteht das Portrait.
Ueber den Kunſtwerth oder -unwerth des Portraits hat man ſich von
Zeit zu Zeit geſtritten; es ſcheint aber, daß man ſich nur über den
Begriff deſſelben zu verſtehen habe, um auch über jenen einig zu ſeyn.
Portrait, ſagt man, iſt ſklaviſche Nachahmung der Natur, und allerdings,
wenn man nicht die Kunſt überhaupt in bloße Nachahmung ſetzen und
die mikroſkopiſchen Maler, die keinen Porus der Haut übergehen, für
die größten erklären will, kann es nach dieſem Begriff von Portrait
kein Zweifel ſeyn, daß daſſelbe einen ſehr untergeordneten Rang ein-
nehme. Verſteht man aber unter Portrait eine ſolche Schilderung, die,
indem ſie die Natur nachahmt, zugleich die Dolmetſcherin ihrer Bedeu-
tung wird, das Innere der Geſtalt herauskehrt und ſichtbar macht,
ſo wird man den bedeutenden Kunſtwerth eines Portraits allerdings
anerkennen müſſen. Das Portraitiren als Kunſt würde dann freilich
vorzugsweiſe auf ſolche Gegenſtände eingeſchränkt werden müſſen, denen
wirklich eine ſymboliſche Bedeutung abzuſehen iſt, und bei denen man
ſehen kann, daß die Natur einen vernünftigen Entwurf und gleichſam
den Zweck, eine Idee auszudrücken, befolgt habe. Die wahre Kunſt
des Portraits würde darin beſtehen, die auf die einzelnen Bewegungen
und Momente des Lebens zerſtreute Idee des Menſchen in Einen
Moment zuſammen zu faſſen, und auf dieſe Weiſe zu machen, daß das
Portrait, indem es von der einen Seite durch Kunſt veredelt iſt, von
der andern dem Menſchen, d. h. der Idee des Menſchen, ähnlicher
ſey, als er ſich ſelbſt in den einzelnen Momenten. Plinius 1 erzählt
von dem Euphranor, daß er ein Bild des Paris gemalt (welches freilich
kein Portrait war) von der Art, daß man in ihm zugleich den Richter
der drei Göttinnen, den Entführer der Helena und denjenigen, der den
Achill erlegte, erblicken konnte. Dieſe Darſtellung des ganzen Menſchen
in den einzelnen Erſcheinungen wäre die höchſte, obgleich, wie man wohl
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 547. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/223>, abgerufen am 24.11.2024.
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