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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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sich völlig und plötzlich nur für den Zweck jener Abhandlung in
das Gewand einer ihm fremden Diktion gehüllt habe. In der
That lassen sich auch jene Formeln in ihrer Anwendung aufs Heiden-
thum und Christenthum leicht verwechseln, ohne daß dadurch die
anderweitige Hauptbestimmung des Charakters der beiden Religionen
selbst verändert oder aufgehoben würde, die sich vielmehr auch bei
veränderten Formeln gleich bleibt, wie ich mir zu zeigen erlaube.
Für das Wesen des Heidenthums nämlich ist die sich gleichbleibende
Hauptbestimmung, daß es sey Unterordnung des Unendlichen unter
die Endlichkeit (Methode, S. 288) -- Vergötterung des Endlichen
(Abh., S. 120, Z. 6 v. o.) --, für das Christenthum Unter-
ordnung des Endlichen unter das Unendliche. Setzen wir nun
diese Bestimmung in jene Formeln um, so finden wir, daß die
gleiche Formel nur von verschiedenen Standpunkten aus das einemal
auf das Heidenthum, das anderemal auf das Christenthum paßt.
Wir nehmen z. B. die Formel "Einbildung des Endlichen ins
Unendliche". Wird nun in dieser der Nachdruck auf den Ausgangs-
punkt gelegt, nämlich das Endliche, so paßt sie aufs Heidenthum,
und so ist sie in der Abhandlung genommen, vergl. S. 119. Wird
aber mit derselben Formel (Einbildung oder Aufnahme des End-
lichen ins Unendliche) bezeichnet, was das herrschende Princip in
einer Religion ist, so paßt sie aufs Christenthum, und so -- nämlich
als Anschauung des Endlichen im Unendlichen -- ist die Formel
in der Methode angewendet. Ebenso, nur umgekehrt, verhält es
sich mit der andern Formel "Einbildung des Unendlichen ins End-
liche". Sieht man hier darauf, daß das Herrschende das Endliche
ist, so ist sie die Formel fürs Heidenthum (nach der Methode
S. 288, vgl. S. 292, Z. 16 v. o.); sieht man aber auf den
Ausgangspunkt, welcher das Unendliche ist, so ist sie die Formel
fürs Christenthum, wie in der Abhandlung S. 119. -- Will man
darüber streiten, welche von beiden die bessere Formulirung sey,
so ist es ohne Zweifel besser, zu sagen, das Wesen des Christen-
thums sey Aufnahme des Endlichen ins Unendliche oder Anschauung

ſich völlig und plötzlich nur für den Zweck jener Abhandlung in
das Gewand einer ihm fremden Diktion gehüllt habe. In der
That laſſen ſich auch jene Formeln in ihrer Anwendung aufs Heiden-
thum und Chriſtenthum leicht verwechſeln, ohne daß dadurch die
anderweitige Hauptbeſtimmung des Charakters der beiden Religionen
ſelbſt verändert oder aufgehoben würde, die ſich vielmehr auch bei
veränderten Formeln gleich bleibt, wie ich mir zu zeigen erlaube.
Für das Weſen des Heidenthums nämlich iſt die ſich gleichbleibende
Hauptbeſtimmung, daß es ſey Unterordnung des Unendlichen unter
die Endlichkeit (Methode, S. 288) — Vergötterung des Endlichen
(Abh., S. 120, Z. 6 v. o.) —, für das Chriſtenthum Unter-
ordnung des Endlichen unter das Unendliche. Setzen wir nun
dieſe Beſtimmung in jene Formeln um, ſo finden wir, daß die
gleiche Formel nur von verſchiedenen Standpunkten aus das einemal
auf das Heidenthum, das anderemal auf das Chriſtenthum paßt.
Wir nehmen z. B. die Formel „Einbildung des Endlichen ins
Unendliche“. Wird nun in dieſer der Nachdruck auf den Ausgangs-
punkt gelegt, nämlich das Endliche, ſo paßt ſie aufs Heidenthum,
und ſo iſt ſie in der Abhandlung genommen, vergl. S. 119. Wird
aber mit derſelben Formel (Einbildung oder Aufnahme des End-
lichen ins Unendliche) bezeichnet, was das herrſchende Princip in
einer Religion iſt, ſo paßt ſie aufs Chriſtenthum, und ſo — nämlich
als Anſchauung des Endlichen im Unendlichen — iſt die Formel
in der Methode angewendet. Ebenſo, nur umgekehrt, verhält es
ſich mit der andern Formel „Einbildung des Unendlichen ins End-
liche“. Sieht man hier darauf, daß das Herrſchende das Endliche
iſt, ſo iſt ſie die Formel fürs Heidenthum (nach der Methode
S. 288, vgl. S. 292, Z. 16 v. o.); ſieht man aber auf den
Ausgangspunkt, welcher das Unendliche iſt, ſo iſt ſie die Formel
fürs Chriſtenthum, wie in der Abhandlung S. 119. — Will man
darüber ſtreiten, welche von beiden die beſſere Formulirung ſey,
ſo iſt es ohne Zweifel beſſer, zu ſagen, das Weſen des Chriſten-
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[XIV/0022] ſich völlig und plötzlich nur für den Zweck jener Abhandlung in das Gewand einer ihm fremden Diktion gehüllt habe. In der That laſſen ſich auch jene Formeln in ihrer Anwendung aufs Heiden- thum und Chriſtenthum leicht verwechſeln, ohne daß dadurch die anderweitige Hauptbeſtimmung des Charakters der beiden Religionen ſelbſt verändert oder aufgehoben würde, die ſich vielmehr auch bei veränderten Formeln gleich bleibt, wie ich mir zu zeigen erlaube. Für das Weſen des Heidenthums nämlich iſt die ſich gleichbleibende Hauptbeſtimmung, daß es ſey Unterordnung des Unendlichen unter die Endlichkeit (Methode, S. 288) — Vergötterung des Endlichen (Abh., S. 120, Z. 6 v. o.) —, für das Chriſtenthum Unter- ordnung des Endlichen unter das Unendliche. Setzen wir nun dieſe Beſtimmung in jene Formeln um, ſo finden wir, daß die gleiche Formel nur von verſchiedenen Standpunkten aus das einemal auf das Heidenthum, das anderemal auf das Chriſtenthum paßt. Wir nehmen z. B. die Formel „Einbildung des Endlichen ins Unendliche“. Wird nun in dieſer der Nachdruck auf den Ausgangs- punkt gelegt, nämlich das Endliche, ſo paßt ſie aufs Heidenthum, und ſo iſt ſie in der Abhandlung genommen, vergl. S. 119. Wird aber mit derſelben Formel (Einbildung oder Aufnahme des End- lichen ins Unendliche) bezeichnet, was das herrſchende Princip in einer Religion iſt, ſo paßt ſie aufs Chriſtenthum, und ſo — nämlich als Anſchauung des Endlichen im Unendlichen — iſt die Formel in der Methode angewendet. Ebenſo, nur umgekehrt, verhält es ſich mit der andern Formel „Einbildung des Unendlichen ins End- liche“. Sieht man hier darauf, daß das Herrſchende das Endliche iſt, ſo iſt ſie die Formel fürs Heidenthum (nach der Methode S. 288, vgl. S. 292, Z. 16 v. o.); ſieht man aber auf den Ausgangspunkt, welcher das Unendliche iſt, ſo iſt ſie die Formel fürs Chriſtenthum, wie in der Abhandlung S. 119. — Will man darüber ſtreiten, welche von beiden die beſſere Formulirung ſey, ſo iſt es ohne Zweifel beſſer, zu ſagen, das Weſen des Chriſten- thums ſey Aufnahme des Endlichen ins Unendliche oder Anſchauung

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. XIV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/22>, abgerufen am 29.03.2024.