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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Daß die moderne Welt kein wahres Epos hat, und, weil mit
einem solchen erst Mythologie sich fixirt, auch keine geschlossene My-
thologie, brauche ich nicht weiter zu beweisen. Es muß indeß hier
noch Erwähnung von dem neueren Versuche geschehen, die Mythologie
auf den Kreis der katholischen zurückzuführen. Alles, was sich über die
Nothwendigkeit eines bestimmten mythologischen Kreises für die Poesie
sagen läßt, glaube ich im Vorhergehenden gesagt zu haben. Ebenso
möchte sich aus dem Vorhergehenden von selbst beurtheilen lassen, welcher
Fond von Poesie innerhalb der Beschränkung, die der bisherigen mo-
dernen Welt überhaupt gesetzt ist, im Katholicismus angetroffen werden
könne. Es gehört aber wesentlich zum Christenthum, auf die Offen-
barungen des Weltgeistes zu achten, und nicht zu vergessen, daß es zu
seinem Plane gehörte, auch diese Welt, welche die moderne Mytho-
logie sich gebildet hatte, zu einer Vergangenheit zu machen. Es gehört
mit zum Christenthum, in der Geschichte nichts partial aufzufassen.
Der Katholicismus ist ein nothwendiges Element aller modernen Poesie
und Mythologie, aber er ist sie nicht ganz und in den Absichten des
Weltgeistes ohne Zweifel nur ein Theil davon. Wenn man bedenkt,
welcher ungeheure historische Stoff in dem Untergang des römischen
Reichs und des griechischen Kaiserthums und überhaupt der ganzen
modernen Geschichte ist, welche Mannichfaltigkeit der Sitten und Bil-
dungen zugleich -- unter einzelnen Nationen und der Menschheit im
Ganzen -- und nacheinander in verschiedenen Jahrhunderten ge-
wesen ist, wenn man bedenkt, daß die moderne Poesie nicht mehr die
Poesie für ein besonderes Volk ist, das sich zur Gattung ausgebildet
hat, sondern Poesie für das ganze Geschlecht, und, so zu sagen, aus
dem Stoff der ganzen Geschichte dieses Geschlechts mit allen ihren ver-
schiedenen Farben und Tönen gebildet seyn muß, wenn man alle diese
Umstände zusammennimmt, wird man nicht zweifeln, daß auch die My-
thologie des Christenthums in den Gedanken des Weltgeistes immer
nur ein Theil des größeren Ganzen sey, das er ohne Zweifel vorbe-
reitet. Daß sie nicht universell, daß noch eine Seite davon die be-
schränkte war, um welcher willen der durchgängig auf Zerschlagung

Daß die moderne Welt kein wahres Epos hat, und, weil mit
einem ſolchen erſt Mythologie ſich fixirt, auch keine geſchloſſene My-
thologie, brauche ich nicht weiter zu beweiſen. Es muß indeß hier
noch Erwähnung von dem neueren Verſuche geſchehen, die Mythologie
auf den Kreis der katholiſchen zurückzuführen. Alles, was ſich über die
Nothwendigkeit eines beſtimmten mythologiſchen Kreiſes für die Poeſie
ſagen läßt, glaube ich im Vorhergehenden geſagt zu haben. Ebenſo
möchte ſich aus dem Vorhergehenden von ſelbſt beurtheilen laſſen, welcher
Fond von Poeſie innerhalb der Beſchränkung, die der bisherigen mo-
dernen Welt überhaupt geſetzt iſt, im Katholicismus angetroffen werden
könne. Es gehört aber weſentlich zum Chriſtenthum, auf die Offen-
barungen des Weltgeiſtes zu achten, und nicht zu vergeſſen, daß es zu
ſeinem Plane gehörte, auch dieſe Welt, welche die moderne Mytho-
logie ſich gebildet hatte, zu einer Vergangenheit zu machen. Es gehört
mit zum Chriſtenthum, in der Geſchichte nichts partial aufzufaſſen.
Der Katholicismus iſt ein nothwendiges Element aller modernen Poeſie
und Mythologie, aber er iſt ſie nicht ganz und in den Abſichten des
Weltgeiſtes ohne Zweifel nur ein Theil davon. Wenn man bedenkt,
welcher ungeheure hiſtoriſche Stoff in dem Untergang des römiſchen
Reichs und des griechiſchen Kaiſerthums und überhaupt der ganzen
modernen Geſchichte iſt, welche Mannichfaltigkeit der Sitten und Bil-
dungen zugleich — unter einzelnen Nationen und der Menſchheit im
Ganzen — und nacheinander in verſchiedenen Jahrhunderten ge-
weſen iſt, wenn man bedenkt, daß die moderne Poeſie nicht mehr die
Poeſie für ein beſonderes Volk iſt, das ſich zur Gattung ausgebildet
hat, ſondern Poeſie für das ganze Geſchlecht, und, ſo zu ſagen, aus
dem Stoff der ganzen Geſchichte dieſes Geſchlechts mit allen ihren ver-
ſchiedenen Farben und Tönen gebildet ſeyn muß, wenn man alle dieſe
Umſtände zuſammennimmt, wird man nicht zweifeln, daß auch die My-
thologie des Chriſtenthums in den Gedanken des Weltgeiſtes immer
nur ein Theil des größeren Ganzen ſey, das er ohne Zweifel vorbe-
reitet. Daß ſie nicht univerſell, daß noch eine Seite davon die be-
ſchränkte war, um welcher willen der durchgängig auf Zerſchlagung

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[442/0118] Daß die moderne Welt kein wahres Epos hat, und, weil mit einem ſolchen erſt Mythologie ſich fixirt, auch keine geſchloſſene My- thologie, brauche ich nicht weiter zu beweiſen. Es muß indeß hier noch Erwähnung von dem neueren Verſuche geſchehen, die Mythologie auf den Kreis der katholiſchen zurückzuführen. Alles, was ſich über die Nothwendigkeit eines beſtimmten mythologiſchen Kreiſes für die Poeſie ſagen läßt, glaube ich im Vorhergehenden geſagt zu haben. Ebenſo möchte ſich aus dem Vorhergehenden von ſelbſt beurtheilen laſſen, welcher Fond von Poeſie innerhalb der Beſchränkung, die der bisherigen mo- dernen Welt überhaupt geſetzt iſt, im Katholicismus angetroffen werden könne. Es gehört aber weſentlich zum Chriſtenthum, auf die Offen- barungen des Weltgeiſtes zu achten, und nicht zu vergeſſen, daß es zu ſeinem Plane gehörte, auch dieſe Welt, welche die moderne Mytho- logie ſich gebildet hatte, zu einer Vergangenheit zu machen. Es gehört mit zum Chriſtenthum, in der Geſchichte nichts partial aufzufaſſen. Der Katholicismus iſt ein nothwendiges Element aller modernen Poeſie und Mythologie, aber er iſt ſie nicht ganz und in den Abſichten des Weltgeiſtes ohne Zweifel nur ein Theil davon. Wenn man bedenkt, welcher ungeheure hiſtoriſche Stoff in dem Untergang des römiſchen Reichs und des griechiſchen Kaiſerthums und überhaupt der ganzen modernen Geſchichte iſt, welche Mannichfaltigkeit der Sitten und Bil- dungen zugleich — unter einzelnen Nationen und der Menſchheit im Ganzen — und nacheinander in verſchiedenen Jahrhunderten ge- weſen iſt, wenn man bedenkt, daß die moderne Poeſie nicht mehr die Poeſie für ein beſonderes Volk iſt, das ſich zur Gattung ausgebildet hat, ſondern Poeſie für das ganze Geſchlecht, und, ſo zu ſagen, aus dem Stoff der ganzen Geſchichte dieſes Geſchlechts mit allen ihren ver- ſchiedenen Farben und Tönen gebildet ſeyn muß, wenn man alle dieſe Umſtände zuſammennimmt, wird man nicht zweifeln, daß auch die My- thologie des Chriſtenthums in den Gedanken des Weltgeiſtes immer nur ein Theil des größeren Ganzen ſey, das er ohne Zweifel vorbe- reitet. Daß ſie nicht univerſell, daß noch eine Seite davon die be- ſchränkte war, um welcher willen der durchgängig auf Zerſchlagung

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 442. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/118>, abgerufen am 27.11.2024.