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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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aller rein endlichen Formen ausgehende Geist der neuen Welt das
Ganze in sich zerfallen ließ, dieß erhellt schon daraus, daß dieß ge-
schehen ist. Es erhellt daraus, daß das Christenthum erst in das
größere Ganze, von dem es ein Theil seyn wird, wieder als allgemein-
gültiger poetischer Stoff wird eintreten können; und aller Gebrauch,
der von ihm in der Poesie gemacht wird, sollte schon in dem Sinne
dieses größeren Ganzen, welches man wohl ahnden, aber nicht aus-
sprechen kann, gemacht werden. Am wenigsten aber könnte dieser Ge-
brauch poetisch seyn, wo sich diese Religion der Poesie selbst nur als
Subjektivität oder Individualität ausspricht. Nur wo sie wahrhaft ins
Objekt übergeht, kann sie poetisch heißen. Denn das Innerste des
Christenthums ist die Mystik, welche selbst nur ein inneres Licht, eine
innere Anschauung ist. Nur ins Subjekt fällt hier die Einheit des
Unendlichen und Endlichen. Aber von diesem inneren Mysticismus kann
selbst wieder eine sittliche Person das objektive Symbol seyn, und er kann
so zur poetischen Anschauung gebracht werden, nicht aber wenn man
ihn selbst nur wieder sich subjektiv aussprechen läßt. Der Mysticismus ist
verwandt mit der reinsten und schönsten Sittlichkeit, sowie es umgekehrt
selbst in der Sünde einen Mysticismus geben kann. Wo er sich wahr-
haft in Handlung äußert und an einer objektiven Person abbildet, kann
die moderne Tragödie z. B. ganz die hohe und symbolische Sittlichkeit
der sophokleischen Stücke erreichen, wie denn Calderon in dieser Rück-
sicht mit keinem andern als mit Sophokles verglichen werden kann.

Nur der Katholicismus lebte in einer mythologischen Welt. Daher
die Heiterkeit der poetischen Werke, die in dem Katholicismus selbst
entsprungen sind, die Leichtigkeit und Freiheit der Behandlung dieses
-- ihnen natürlichen -- Stoffes, fast wie die Griechen ihre Mytho-
logie behandelt haben. Außer dem Katholicismus kann fast nur Unter-
ordnung unter den Stoff, gezwungene Bewegung ohne Heiterkeit und
bloße Subjektivität des Gebrauchs erwartet werden. Ueberhaupt wenn
eine Mythologie zum Gebrauch herabgesunken, z. B. der Gebrauch
der alten Mythologie in den Modernen, so ist dieser, eben weil bloß
Gebrauch, bloße Formalität; sie muß nicht auf den Leib passen, wie

aller rein endlichen Formen ausgehende Geiſt der neuen Welt das
Ganze in ſich zerfallen ließ, dieß erhellt ſchon daraus, daß dieß ge-
ſchehen iſt. Es erhellt daraus, daß das Chriſtenthum erſt in das
größere Ganze, von dem es ein Theil ſeyn wird, wieder als allgemein-
gültiger poetiſcher Stoff wird eintreten können; und aller Gebrauch,
der von ihm in der Poeſie gemacht wird, ſollte ſchon in dem Sinne
dieſes größeren Ganzen, welches man wohl ahnden, aber nicht aus-
ſprechen kann, gemacht werden. Am wenigſten aber könnte dieſer Ge-
brauch poetiſch ſeyn, wo ſich dieſe Religion der Poeſie ſelbſt nur als
Subjektivität oder Individualität ausſpricht. Nur wo ſie wahrhaft ins
Objekt übergeht, kann ſie poetiſch heißen. Denn das Innerſte des
Chriſtenthums iſt die Myſtik, welche ſelbſt nur ein inneres Licht, eine
innere Anſchauung iſt. Nur ins Subjekt fällt hier die Einheit des
Unendlichen und Endlichen. Aber von dieſem inneren Myſticismus kann
ſelbſt wieder eine ſittliche Perſon das objektive Symbol ſeyn, und er kann
ſo zur poetiſchen Anſchauung gebracht werden, nicht aber wenn man
ihn ſelbſt nur wieder ſich ſubjektiv ausſprechen läßt. Der Myſticismus iſt
verwandt mit der reinſten und ſchönſten Sittlichkeit, ſowie es umgekehrt
ſelbſt in der Sünde einen Myſticismus geben kann. Wo er ſich wahr-
haft in Handlung äußert und an einer objektiven Perſon abbildet, kann
die moderne Tragödie z. B. ganz die hohe und ſymboliſche Sittlichkeit
der ſophokleiſchen Stücke erreichen, wie denn Calderon in dieſer Rück-
ſicht mit keinem andern als mit Sophokles verglichen werden kann.

Nur der Katholicismus lebte in einer mythologiſchen Welt. Daher
die Heiterkeit der poetiſchen Werke, die in dem Katholicismus ſelbſt
entſprungen ſind, die Leichtigkeit und Freiheit der Behandlung dieſes
— ihnen natürlichen — Stoffes, faſt wie die Griechen ihre Mytho-
logie behandelt haben. Außer dem Katholicismus kann faſt nur Unter-
ordnung unter den Stoff, gezwungene Bewegung ohne Heiterkeit und
bloße Subjektivität des Gebrauchs erwartet werden. Ueberhaupt wenn
eine Mythologie zum Gebrauch herabgeſunken, z. B. der Gebrauch
der alten Mythologie in den Modernen, ſo iſt dieſer, eben weil bloß
Gebrauch, bloße Formalität; ſie muß nicht auf den Leib paſſen, wie

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[443/0119] aller rein endlichen Formen ausgehende Geiſt der neuen Welt das Ganze in ſich zerfallen ließ, dieß erhellt ſchon daraus, daß dieß ge- ſchehen iſt. Es erhellt daraus, daß das Chriſtenthum erſt in das größere Ganze, von dem es ein Theil ſeyn wird, wieder als allgemein- gültiger poetiſcher Stoff wird eintreten können; und aller Gebrauch, der von ihm in der Poeſie gemacht wird, ſollte ſchon in dem Sinne dieſes größeren Ganzen, welches man wohl ahnden, aber nicht aus- ſprechen kann, gemacht werden. Am wenigſten aber könnte dieſer Ge- brauch poetiſch ſeyn, wo ſich dieſe Religion der Poeſie ſelbſt nur als Subjektivität oder Individualität ausſpricht. Nur wo ſie wahrhaft ins Objekt übergeht, kann ſie poetiſch heißen. Denn das Innerſte des Chriſtenthums iſt die Myſtik, welche ſelbſt nur ein inneres Licht, eine innere Anſchauung iſt. Nur ins Subjekt fällt hier die Einheit des Unendlichen und Endlichen. Aber von dieſem inneren Myſticismus kann ſelbſt wieder eine ſittliche Perſon das objektive Symbol ſeyn, und er kann ſo zur poetiſchen Anſchauung gebracht werden, nicht aber wenn man ihn ſelbſt nur wieder ſich ſubjektiv ausſprechen läßt. Der Myſticismus iſt verwandt mit der reinſten und ſchönſten Sittlichkeit, ſowie es umgekehrt ſelbſt in der Sünde einen Myſticismus geben kann. Wo er ſich wahr- haft in Handlung äußert und an einer objektiven Perſon abbildet, kann die moderne Tragödie z. B. ganz die hohe und ſymboliſche Sittlichkeit der ſophokleiſchen Stücke erreichen, wie denn Calderon in dieſer Rück- ſicht mit keinem andern als mit Sophokles verglichen werden kann. Nur der Katholicismus lebte in einer mythologiſchen Welt. Daher die Heiterkeit der poetiſchen Werke, die in dem Katholicismus ſelbſt entſprungen ſind, die Leichtigkeit und Freiheit der Behandlung dieſes — ihnen natürlichen — Stoffes, faſt wie die Griechen ihre Mytho- logie behandelt haben. Außer dem Katholicismus kann faſt nur Unter- ordnung unter den Stoff, gezwungene Bewegung ohne Heiterkeit und bloße Subjektivität des Gebrauchs erwartet werden. Ueberhaupt wenn eine Mythologie zum Gebrauch herabgeſunken, z. B. der Gebrauch der alten Mythologie in den Modernen, ſo iſt dieſer, eben weil bloß Gebrauch, bloße Formalität; ſie muß nicht auf den Leib paſſen, wie

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 443. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/119>, abgerufen am 01.05.2024.