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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Orient hinzuziehen, als ob dorther der Retter kommen würde, wovon
selbst in den Nachrichten des Tacitus und Sueton Spuren liegen.

In der Weltherrschaft Roms, kann man sagen, hat der Weltgeist
zuerst die Geschichte als Universum angeschaut; von ihr als dem Mit-
telpunkt aus bildeten und verketteten sich alle Bestimmungen der Völker,
und, gleichsam nur seine Absicht einer neuen Welt aufs deutlichste
auszusprechen, führte der Weltgeist -- wie ein großer Sturmwind oft
ganze Schaaren von geflügelten Thieren über ein Land führt, oder
große Gewässer ungeheure Massen gegen Eine Stelle gewälzt haben,
so führte der Weltgeist noch unbekannte, entlegene Völker her auf den
Schauplatz der Weltherrschaft, um mit den Trümmern des dahinstür-
zenden Roms den Stoff aller Klimate und aller Völker zu vermischen.
Wer nicht an den Zusammenhang der Natur und der Geschichte glaubt,
der müßte es, wenn er diesen Punkt auffaßte. In demselben Augen-
blick, wo der Weltgeist ein großes, nie gesehenes Schauspiel vorbereitet,
auf eine neue Welt sinnt und zürnend auf die stolze Größe Roms,
welches die Herrlichkeit der ganzen Welt, indem es sie in sich versam-
melte, zugleich in sich begrub, die damalige Welt zum Gericht reif sieht,
führt eine Bestimmung der Natur, eine Nothwendigkeit, die so bestimmt
ist, als die, welche die großen Perioden der Erde und die Bewegung
ihrer Pole lenkt, Massen fremder Horden von allen Seiten gegen diesen
Mittelpunkt heran, und eine Naturnothwendigkeit führt das aus, was
der Geist der Geschichte in seinen Planen entworfen hat.

Ich will hier also nur meinen Unglauben an das Unzureichende
aller historischen Erklärungen der Völkerwanderung bekennen und ge-
stehen, daß ich ihren Grund weit bestimmter in einem allgemeinen,
auch die Natur bestimmenden Gesetz, als einem bloß historischen Grund,
suchen möchte, einem Naturgesetz, welches rohe, barbarische Nationen
blinder leitet. Was in der Natur, dem Gesetz der Endlichkeit gemäß,
stiller, beschränkter geschieht, spricht sich in der Geschichte in größeren
Perioden und lauter aus, und was die periodische Declination der
Magnetnadel physisch, war historisch betrachtet die Völkerwanderung.
Von diesem Zeitpunkt, dem der höchsten Macht und der Zertrümmerung

Orient hinzuziehen, als ob dorther der Retter kommen würde, wovon
ſelbſt in den Nachrichten des Tacitus und Sueton Spuren liegen.

In der Weltherrſchaft Roms, kann man ſagen, hat der Weltgeiſt
zuerſt die Geſchichte als Univerſum angeſchaut; von ihr als dem Mit-
telpunkt aus bildeten und verketteten ſich alle Beſtimmungen der Völker,
und, gleichſam nur ſeine Abſicht einer neuen Welt aufs deutlichſte
auszuſprechen, führte der Weltgeiſt — wie ein großer Sturmwind oft
ganze Schaaren von geflügelten Thieren über ein Land führt, oder
große Gewäſſer ungeheure Maſſen gegen Eine Stelle gewälzt haben,
ſo führte der Weltgeiſt noch unbekannte, entlegene Völker her auf den
Schauplatz der Weltherrſchaft, um mit den Trümmern des dahinſtür-
zenden Roms den Stoff aller Klimate und aller Völker zu vermiſchen.
Wer nicht an den Zuſammenhang der Natur und der Geſchichte glaubt,
der müßte es, wenn er dieſen Punkt auffaßte. In demſelben Augen-
blick, wo der Weltgeiſt ein großes, nie geſehenes Schauſpiel vorbereitet,
auf eine neue Welt ſinnt und zürnend auf die ſtolze Größe Roms,
welches die Herrlichkeit der ganzen Welt, indem es ſie in ſich verſam-
melte, zugleich in ſich begrub, die damalige Welt zum Gericht reif ſieht,
führt eine Beſtimmung der Natur, eine Nothwendigkeit, die ſo beſtimmt
iſt, als die, welche die großen Perioden der Erde und die Bewegung
ihrer Pole lenkt, Maſſen fremder Horden von allen Seiten gegen dieſen
Mittelpunkt heran, und eine Naturnothwendigkeit führt das aus, was
der Geiſt der Geſchichte in ſeinen Planen entworfen hat.

Ich will hier alſo nur meinen Unglauben an das Unzureichende
aller hiſtoriſchen Erklärungen der Völkerwanderung bekennen und ge-
ſtehen, daß ich ihren Grund weit beſtimmter in einem allgemeinen,
auch die Natur beſtimmenden Geſetz, als einem bloß hiſtoriſchen Grund,
ſuchen möchte, einem Naturgeſetz, welches rohe, barbariſche Nationen
blinder leitet. Was in der Natur, dem Geſetz der Endlichkeit gemäß,
ſtiller, beſchränkter geſchieht, ſpricht ſich in der Geſchichte in größeren
Perioden und lauter aus, und was die periodiſche Declination der
Magnetnadel phyſiſch, war hiſtoriſch betrachtet die Völkerwanderung.
Von dieſem Zeitpunkt, dem der höchſten Macht und der Zertrümmerung

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[428/0104] Orient hinzuziehen, als ob dorther der Retter kommen würde, wovon ſelbſt in den Nachrichten des Tacitus und Sueton Spuren liegen. In der Weltherrſchaft Roms, kann man ſagen, hat der Weltgeiſt zuerſt die Geſchichte als Univerſum angeſchaut; von ihr als dem Mit- telpunkt aus bildeten und verketteten ſich alle Beſtimmungen der Völker, und, gleichſam nur ſeine Abſicht einer neuen Welt aufs deutlichſte auszuſprechen, führte der Weltgeiſt — wie ein großer Sturmwind oft ganze Schaaren von geflügelten Thieren über ein Land führt, oder große Gewäſſer ungeheure Maſſen gegen Eine Stelle gewälzt haben, ſo führte der Weltgeiſt noch unbekannte, entlegene Völker her auf den Schauplatz der Weltherrſchaft, um mit den Trümmern des dahinſtür- zenden Roms den Stoff aller Klimate und aller Völker zu vermiſchen. Wer nicht an den Zuſammenhang der Natur und der Geſchichte glaubt, der müßte es, wenn er dieſen Punkt auffaßte. In demſelben Augen- blick, wo der Weltgeiſt ein großes, nie geſehenes Schauſpiel vorbereitet, auf eine neue Welt ſinnt und zürnend auf die ſtolze Größe Roms, welches die Herrlichkeit der ganzen Welt, indem es ſie in ſich verſam- melte, zugleich in ſich begrub, die damalige Welt zum Gericht reif ſieht, führt eine Beſtimmung der Natur, eine Nothwendigkeit, die ſo beſtimmt iſt, als die, welche die großen Perioden der Erde und die Bewegung ihrer Pole lenkt, Maſſen fremder Horden von allen Seiten gegen dieſen Mittelpunkt heran, und eine Naturnothwendigkeit führt das aus, was der Geiſt der Geſchichte in ſeinen Planen entworfen hat. Ich will hier alſo nur meinen Unglauben an das Unzureichende aller hiſtoriſchen Erklärungen der Völkerwanderung bekennen und ge- ſtehen, daß ich ihren Grund weit beſtimmter in einem allgemeinen, auch die Natur beſtimmenden Geſetz, als einem bloß hiſtoriſchen Grund, ſuchen möchte, einem Naturgeſetz, welches rohe, barbariſche Nationen blinder leitet. Was in der Natur, dem Geſetz der Endlichkeit gemäß, ſtiller, beſchränkter geſchieht, ſpricht ſich in der Geſchichte in größeren Perioden und lauter aus, und was die periodiſche Declination der Magnetnadel phyſiſch, war hiſtoriſch betrachtet die Völkerwanderung. Von dieſem Zeitpunkt, dem der höchſten Macht und der Zertrümmerung

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 428. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/104>, abgerufen am 23.11.2024.