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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Boden verpflanzt wurden. Allerdings war dieser Boden für sich un-
fruchtbar, das ideale Princip mußte vom Orient kommen, aber auch
dieses war für sich wie in den orientalischen Religionen reines Licht,
reiner Aether, gestalt- und sogar farblos. Nur in der Verbindung
mit dem Entgegengesetztesten konnte es Leben entzünden. Wo ganz
verschiedenartige Elemente sich berühren, da erst bildet sich der chaotische
Stoff, der der Anfang alles Lebens ist. Nimmermehr aber hätte sich
der christliche Stoff zur Mythologie gebildet, wäre das Christenthum
nicht universalhistorisch geworden. Denn ein universeller Stoff ist die
erste Bedingung aller Mythologie.

Der Stoff der griechischen Mythologie war die Natur, die allge-
meine Anschauung des Universums als Natur, der Stoff der christlichen
die allgemeine Anschauung des Universums als Geschichte, als einer
Welt der Vorsehung. Dieß ist der eigentliche Wendepunkt der antiken
und modernen Religion und Poesie. Die moderne Welt beginnt, in-
dem sich der Mensch von der Natur losreißt, aber da er noch keine
andere Heimath kennt, so fühlt er sich verlassen. Wo ein solches
Gefühl sich über ein ganzes Geschlecht ausbreitet, wendet es sich frei-
willig oder durch inneren Trieb gezwungen der ideellen Welt zu, um
sich dort einheimisch zu machen. Ein solches Gefühl war über die Welt
verbreitet, als das Christenthum entstand. Griechenlands Schönheit
war dahin. Rom, welches alle Herrlichkeit der Welt auf sich gehäuft
hatte, erlag unter seiner eignen Größe; die vollste Befriedigung durch
alles Objektive führte von selbst den Ueberdruß und die Hinneigung
zum Ideellen herbei. Ehe noch das Christenthum seine Macht nach
Rom erstreckt hatte, schon unter den ersten Kaisern, war diese sittenlose
Stadt mit orientalischem Aberglauben erfüllt, Sterndeuter und Magier
selbst die Rathgeber des Staatsoberhaupts, die Orakel der Götter hatten
ihr Ansehen verloren, noch eh' sie gänzlich verstummten. Das allge-
meine Gefühl, daß eine neue Welt kommen müßte, da die alte nicht
weiter fortschreiten konnte, lag gleich einer schwülen Luft, die eine
große Bewegung der Natur voraus verkündet, auf der ganzen damali-
gen Welt, und eine allgemeine Ahndung schien alle Gedanken nach dem

Boden verpflanzt wurden. Allerdings war dieſer Boden für ſich un-
fruchtbar, das ideale Princip mußte vom Orient kommen, aber auch
dieſes war für ſich wie in den orientaliſchen Religionen reines Licht,
reiner Aether, geſtalt- und ſogar farblos. Nur in der Verbindung
mit dem Entgegengeſetzteſten konnte es Leben entzünden. Wo ganz
verſchiedenartige Elemente ſich berühren, da erſt bildet ſich der chaotiſche
Stoff, der der Anfang alles Lebens iſt. Nimmermehr aber hätte ſich
der chriſtliche Stoff zur Mythologie gebildet, wäre das Chriſtenthum
nicht univerſalhiſtoriſch geworden. Denn ein univerſeller Stoff iſt die
erſte Bedingung aller Mythologie.

Der Stoff der griechiſchen Mythologie war die Natur, die allge-
meine Anſchauung des Univerſums als Natur, der Stoff der chriſtlichen
die allgemeine Anſchauung des Univerſums als Geſchichte, als einer
Welt der Vorſehung. Dieß iſt der eigentliche Wendepunkt der antiken
und modernen Religion und Poeſie. Die moderne Welt beginnt, in-
dem ſich der Menſch von der Natur losreißt, aber da er noch keine
andere Heimath kennt, ſo fühlt er ſich verlaſſen. Wo ein ſolches
Gefühl ſich über ein ganzes Geſchlecht ausbreitet, wendet es ſich frei-
willig oder durch inneren Trieb gezwungen der ideellen Welt zu, um
ſich dort einheimiſch zu machen. Ein ſolches Gefühl war über die Welt
verbreitet, als das Chriſtenthum entſtand. Griechenlands Schönheit
war dahin. Rom, welches alle Herrlichkeit der Welt auf ſich gehäuft
hatte, erlag unter ſeiner eignen Größe; die vollſte Befriedigung durch
alles Objektive führte von ſelbſt den Ueberdruß und die Hinneigung
zum Ideellen herbei. Ehe noch das Chriſtenthum ſeine Macht nach
Rom erſtreckt hatte, ſchon unter den erſten Kaiſern, war dieſe ſittenloſe
Stadt mit orientaliſchem Aberglauben erfüllt, Sterndeuter und Magier
ſelbſt die Rathgeber des Staatsoberhaupts, die Orakel der Götter hatten
ihr Anſehen verloren, noch eh’ ſie gänzlich verſtummten. Das allge-
meine Gefühl, daß eine neue Welt kommen müßte, da die alte nicht
weiter fortſchreiten konnte, lag gleich einer ſchwülen Luft, die eine
große Bewegung der Natur voraus verkündet, auf der ganzen damali-
gen Welt, und eine allgemeine Ahndung ſchien alle Gedanken nach dem

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[427/0103] Boden verpflanzt wurden. Allerdings war dieſer Boden für ſich un- fruchtbar, das ideale Princip mußte vom Orient kommen, aber auch dieſes war für ſich wie in den orientaliſchen Religionen reines Licht, reiner Aether, geſtalt- und ſogar farblos. Nur in der Verbindung mit dem Entgegengeſetzteſten konnte es Leben entzünden. Wo ganz verſchiedenartige Elemente ſich berühren, da erſt bildet ſich der chaotiſche Stoff, der der Anfang alles Lebens iſt. Nimmermehr aber hätte ſich der chriſtliche Stoff zur Mythologie gebildet, wäre das Chriſtenthum nicht univerſalhiſtoriſch geworden. Denn ein univerſeller Stoff iſt die erſte Bedingung aller Mythologie. Der Stoff der griechiſchen Mythologie war die Natur, die allge- meine Anſchauung des Univerſums als Natur, der Stoff der chriſtlichen die allgemeine Anſchauung des Univerſums als Geſchichte, als einer Welt der Vorſehung. Dieß iſt der eigentliche Wendepunkt der antiken und modernen Religion und Poeſie. Die moderne Welt beginnt, in- dem ſich der Menſch von der Natur losreißt, aber da er noch keine andere Heimath kennt, ſo fühlt er ſich verlaſſen. Wo ein ſolches Gefühl ſich über ein ganzes Geſchlecht ausbreitet, wendet es ſich frei- willig oder durch inneren Trieb gezwungen der ideellen Welt zu, um ſich dort einheimiſch zu machen. Ein ſolches Gefühl war über die Welt verbreitet, als das Chriſtenthum entſtand. Griechenlands Schönheit war dahin. Rom, welches alle Herrlichkeit der Welt auf ſich gehäuft hatte, erlag unter ſeiner eignen Größe; die vollſte Befriedigung durch alles Objektive führte von ſelbſt den Ueberdruß und die Hinneigung zum Ideellen herbei. Ehe noch das Chriſtenthum ſeine Macht nach Rom erſtreckt hatte, ſchon unter den erſten Kaiſern, war dieſe ſittenloſe Stadt mit orientaliſchem Aberglauben erfüllt, Sterndeuter und Magier ſelbſt die Rathgeber des Staatsoberhaupts, die Orakel der Götter hatten ihr Anſehen verloren, noch eh’ ſie gänzlich verſtummten. Das allge- meine Gefühl, daß eine neue Welt kommen müßte, da die alte nicht weiter fortſchreiten konnte, lag gleich einer ſchwülen Luft, die eine große Bewegung der Natur voraus verkündet, auf der ganzen damali- gen Welt, und eine allgemeine Ahndung ſchien alle Gedanken nach dem

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/103>, abgerufen am 30.04.2024.