weder ein weiser, noch redlicher Arzt, der dich bere- den wollte, im Alter habe man nichts besseres zu thun, als der Ruhe zu pflegen. So wenig irgend ein Klima, eben so wenig ist irgend ein Lebensalter zur Hervor- bringung gar aller Früchte ganz untauglich -- wenn auf einer Seite die Kälte des Blutes sich dem Geiste mittheilt, warum nicht eben so die Wärme des Geistes seine Bewegung dem Blute? (hier sind einige Anno 1742. 38. 35. 37. 29. geborne Schweizer angeführt. --) Wende nicht ein, ich spräch hier nur von ausgezeich- neten Männern -- sie dienen zum Muster und Vor- bilde, man ahme sie in bescheidner Entfernung nach, auch für uns sey nulla dies sine linea, damit auch einst für uns, unter naher Vollendung des Tagewerks, jener beseeligende Zuruf erschalle Matth. XXV, 22, 23.
Selbstgespräch des Greises um Mit- ternacht. -- -- Ernstes Schweigen herrscht um mich her -- beynah ganz verschwunden ist vor mir die äußre Welt. Wie aber? Nur desto inniger fühl ich mein eignes Daseyn, mich selbst. Jm Jnnern regt sich auch nach dem Absterben der Sinne ein Bewußtseyn, mein Selbstgefühl. Also denn, wenn für mich die äußre Welt nichts mehr ist, und ich nichts mehr für sie, so entdeck ich doch eine eigne Welt in mir selbst, in mir selbst find ich Leben und Lebensgenuß, in mir selbst den Vorgenuß der Unsterblichkeit, in mir selbst find ich selige Unterhaltung mit eignem Geiste, und mit dem unendlichen Allgeiste, der dem meinigen so nahe ist und sich ihm mittheilt -- du Gott bist, der ist, der war, und der seyn wird, wenn ich nur Dich habe, so frag ich nicht nach Himmel und Erde. Ewig mein Vater, ich ewig Dein Kind, Dir zur
** 2
weder ein weiſer, noch redlicher Arzt, der dich bere- den wollte, im Alter habe man nichts beſſeres zu thun, als der Ruhe zu pflegen. So wenig irgend ein Klima, eben ſo wenig iſt irgend ein Lebensalter zur Hervor- bringung gar aller Fruͤchte ganz untauglich — wenn auf einer Seite die Kaͤlte des Blutes ſich dem Geiſte mittheilt, warum nicht eben ſo die Waͤrme des Geiſtes ſeine Bewegung dem Blute? (hier ſind einige Anno 1742. 38. 35. 37. 29. geborne Schweizer angefuͤhrt. —) Wende nicht ein, ich ſpraͤch hier nur von ausgezeich- neten Maͤnnern — ſie dienen zum Muſter und Vor- bilde, man ahme ſie in beſcheidner Entfernung nach, auch fuͤr uns ſey nulla dies ſine linea, damit auch einſt fuͤr uns, unter naher Vollendung des Tagewerks, jener beſeeligende Zuruf erſchalle Matth. XXV, 22, 23.
Selbſtgeſpraͤch des Greiſes um Mit- ternacht. — — Ernſtes Schweigen herrſcht um mich her — beynah ganz verſchwunden iſt vor mir die aͤußre Welt. Wie aber? Nur deſto inniger fuͤhl ich mein eignes Daſeyn, mich ſelbſt. Jm Jnnern regt ſich auch nach dem Abſterben der Sinne ein Bewußtſeyn, mein Selbſtgefuͤhl. Alſo denn, wenn fuͤr mich die aͤußre Welt nichts mehr iſt, und ich nichts mehr fuͤr ſie, ſo entdeck ich doch eine eigne Welt in mir ſelbſt, in mir ſelbſt find ich Leben und Lebensgenuß, in mir ſelbſt den Vorgenuß der Unſterblichkeit, in mir ſelbſt find ich ſelige Unterhaltung mit eignem Geiſte, und mit dem unendlichen Allgeiſte, der dem meinigen ſo nahe iſt und ſich ihm mittheilt — du Gott biſt, der iſt, der war, und der ſeyn wird, wenn ich nur Dich habe, ſo frag ich nicht nach Himmel und Erde. Ewig mein Vater, ich ewig Dein Kind, Dir zur
** 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0548"/>
weder ein weiſer, noch redlicher Arzt, der dich bere-<lb/>
den wollte, im Alter habe man nichts beſſeres zu thun,<lb/>
als der Ruhe zu pflegen. So wenig irgend ein Klima,<lb/>
eben ſo wenig iſt irgend ein Lebensalter zur Hervor-<lb/>
bringung gar aller Fruͤchte ganz untauglich — wenn<lb/>
auf einer Seite die Kaͤlte des Blutes ſich dem Geiſte<lb/>
mittheilt, warum nicht eben ſo die Waͤrme des Geiſtes<lb/>ſeine Bewegung dem Blute? (hier ſind einige <hirendition="#aq">Anno</hi><lb/>
1742. 38. 35. 37. 29. geborne Schweizer angefuͤhrt. —)<lb/>
Wende nicht ein, ich ſpraͤch hier nur von ausgezeich-<lb/>
neten Maͤnnern —ſie dienen zum Muſter und Vor-<lb/>
bilde, man ahme ſie in beſcheidner Entfernung nach,<lb/>
auch fuͤr uns ſey <hirendition="#aq">nulla dies ſine linea,</hi> damit auch<lb/>
einſt fuͤr uns, unter naher Vollendung des Tagewerks,<lb/>
jener beſeeligende Zuruf erſchalle Matth. <hirendition="#aq">XXV,</hi> 22, 23.</p><lb/><floatingText><body><div><p><hirendition="#c"><hirendition="#g">Selbſtgeſpraͤch des Greiſes um Mit-<lb/>
ternacht.</hi></hi><lb/>—— Ernſtes Schweigen herrſcht um mich her —<lb/>
beynah ganz verſchwunden iſt vor mir die aͤußre Welt.<lb/>
Wie aber? Nur deſto inniger fuͤhl ich mein eignes<lb/>
Daſeyn, mich ſelbſt. Jm Jnnern regt ſich auch nach<lb/>
dem Abſterben der Sinne ein Bewußtſeyn, mein<lb/>
Selbſtgefuͤhl. Alſo denn, wenn fuͤr mich die aͤußre<lb/>
Welt nichts mehr iſt, und ich nichts mehr fuͤr ſie,<lb/>ſo entdeck ich doch eine eigne Welt in mir ſelbſt, in<lb/>
mir ſelbſt find ich Leben und Lebensgenuß, in mir<lb/>ſelbſt den Vorgenuß der Unſterblichkeit, in mir ſelbſt<lb/>
find ich ſelige Unterhaltung mit eignem Geiſte, und<lb/>
mit dem unendlichen Allgeiſte, der dem meinigen<lb/>ſo nahe iſt und ſich ihm mittheilt — du Gott biſt,<lb/>
der iſt, der war, und der ſeyn wird, wenn ich nur<lb/>
Dich habe, ſo frag ich nicht nach Himmel und Erde.<lb/>
Ewig mein Vater, ich ewig Dein Kind, Dir zur<lb/><fwplace="bottom"type="sig">** 2</fw><lb/></p></div></body></floatingText></div></div></body></text></TEI>
[0548]
weder ein weiſer, noch redlicher Arzt, der dich bere-
den wollte, im Alter habe man nichts beſſeres zu thun,
als der Ruhe zu pflegen. So wenig irgend ein Klima,
eben ſo wenig iſt irgend ein Lebensalter zur Hervor-
bringung gar aller Fruͤchte ganz untauglich — wenn
auf einer Seite die Kaͤlte des Blutes ſich dem Geiſte
mittheilt, warum nicht eben ſo die Waͤrme des Geiſtes
ſeine Bewegung dem Blute? (hier ſind einige Anno
1742. 38. 35. 37. 29. geborne Schweizer angefuͤhrt. —)
Wende nicht ein, ich ſpraͤch hier nur von ausgezeich-
neten Maͤnnern — ſie dienen zum Muſter und Vor-
bilde, man ahme ſie in beſcheidner Entfernung nach,
auch fuͤr uns ſey nulla dies ſine linea, damit auch
einſt fuͤr uns, unter naher Vollendung des Tagewerks,
jener beſeeligende Zuruf erſchalle Matth. XXV, 22, 23.
Selbſtgeſpraͤch des Greiſes um Mit-
ternacht.
— — Ernſtes Schweigen herrſcht um mich her —
beynah ganz verſchwunden iſt vor mir die aͤußre Welt.
Wie aber? Nur deſto inniger fuͤhl ich mein eignes
Daſeyn, mich ſelbſt. Jm Jnnern regt ſich auch nach
dem Abſterben der Sinne ein Bewußtſeyn, mein
Selbſtgefuͤhl. Alſo denn, wenn fuͤr mich die aͤußre
Welt nichts mehr iſt, und ich nichts mehr fuͤr ſie,
ſo entdeck ich doch eine eigne Welt in mir ſelbſt, in
mir ſelbſt find ich Leben und Lebensgenuß, in mir
ſelbſt den Vorgenuß der Unſterblichkeit, in mir ſelbſt
find ich ſelige Unterhaltung mit eignem Geiſte, und
mit dem unendlichen Allgeiſte, der dem meinigen
ſo nahe iſt und ſich ihm mittheilt — du Gott biſt,
der iſt, der war, und der ſeyn wird, wenn ich nur
Dich habe, ſo frag ich nicht nach Himmel und Erde.
Ewig mein Vater, ich ewig Dein Kind, Dir zur
** 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/548>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.