Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823.

Bild:
<< vorherige Seite

weder ein weiser, noch redlicher Arzt, der dich bere-
den wollte, im Alter habe man nichts besseres zu thun,
als der Ruhe zu pflegen. So wenig irgend ein Klima,
eben so wenig ist irgend ein Lebensalter zur Hervor-
bringung gar aller Früchte ganz untauglich -- wenn
auf einer Seite die Kälte des Blutes sich dem Geiste
mittheilt, warum nicht eben so die Wärme des Geistes
seine Bewegung dem Blute? (hier sind einige Anno
1742. 38. 35. 37. 29. geborne Schweizer angeführt. --)
Wende nicht ein, ich spräch hier nur von ausgezeich-
neten Männern -- sie dienen zum Muster und Vor-
bilde, man ahme sie in bescheidner Entfernung nach,
auch für uns sey nulla dies sine linea, damit auch
einst für uns, unter naher Vollendung des Tagewerks,
jener beseeligende Zuruf erschalle Matth. XXV, 22, 23.

Selbstgespräch des Greises um Mit-
ternacht.

-- -- Ernstes Schweigen herrscht um mich her --
beynah ganz verschwunden ist vor mir die äußre Welt.
Wie aber? Nur desto inniger fühl ich mein eignes
Daseyn, mich selbst. Jm Jnnern regt sich auch nach
dem Absterben der Sinne ein Bewußtseyn, mein
Selbstgefühl. Also denn, wenn für mich die äußre
Welt nichts mehr ist, und ich nichts mehr für sie,
so entdeck ich doch eine eigne Welt in mir selbst, in
mir selbst find ich Leben und Lebensgenuß, in mir
selbst den Vorgenuß der Unsterblichkeit, in mir selbst
find ich selige Unterhaltung mit eignem Geiste, und
mit dem unendlichen Allgeiste, der dem meinigen
so nahe ist und sich ihm mittheilt -- du Gott bist,
der ist, der war, und der seyn wird, wenn ich nur
Dich habe, so frag ich nicht nach Himmel und Erde.
Ewig mein Vater, ich ewig Dein Kind, Dir zur

** 2

weder ein weiſer, noch redlicher Arzt, der dich bere-
den wollte, im Alter habe man nichts beſſeres zu thun,
als der Ruhe zu pflegen. So wenig irgend ein Klima,
eben ſo wenig iſt irgend ein Lebensalter zur Hervor-
bringung gar aller Fruͤchte ganz untauglich — wenn
auf einer Seite die Kaͤlte des Blutes ſich dem Geiſte
mittheilt, warum nicht eben ſo die Waͤrme des Geiſtes
ſeine Bewegung dem Blute? (hier ſind einige Anno
1742. 38. 35. 37. 29. geborne Schweizer angefuͤhrt. —)
Wende nicht ein, ich ſpraͤch hier nur von ausgezeich-
neten Maͤnnern — ſie dienen zum Muſter und Vor-
bilde, man ahme ſie in beſcheidner Entfernung nach,
auch fuͤr uns ſey nulla dies ſine linea, damit auch
einſt fuͤr uns, unter naher Vollendung des Tagewerks,
jener beſeeligende Zuruf erſchalle Matth. XXV, 22, 23.

Selbſtgeſpraͤch des Greiſes um Mit-
ternacht.

— — Ernſtes Schweigen herrſcht um mich her —
beynah ganz verſchwunden iſt vor mir die aͤußre Welt.
Wie aber? Nur deſto inniger fuͤhl ich mein eignes
Daſeyn, mich ſelbſt. Jm Jnnern regt ſich auch nach
dem Abſterben der Sinne ein Bewußtſeyn, mein
Selbſtgefuͤhl. Alſo denn, wenn fuͤr mich die aͤußre
Welt nichts mehr iſt, und ich nichts mehr fuͤr ſie,
ſo entdeck ich doch eine eigne Welt in mir ſelbſt, in
mir ſelbſt find ich Leben und Lebensgenuß, in mir
ſelbſt den Vorgenuß der Unſterblichkeit, in mir ſelbſt
find ich ſelige Unterhaltung mit eignem Geiſte, und
mit dem unendlichen Allgeiſte, der dem meinigen
ſo nahe iſt und ſich ihm mittheilt — du Gott biſt,
der iſt, der war, und der ſeyn wird, wenn ich nur
Dich habe, ſo frag ich nicht nach Himmel und Erde.
Ewig mein Vater, ich ewig Dein Kind, Dir zur

** 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0548"/>
weder ein wei&#x017F;er, noch redlicher Arzt, der dich bere-<lb/>
den wollte, im Alter habe man nichts be&#x017F;&#x017F;eres zu thun,<lb/>
als der Ruhe zu pflegen. So wenig irgend ein Klima,<lb/>
eben &#x017F;o wenig i&#x017F;t irgend ein Lebensalter zur Hervor-<lb/>
bringung gar aller Fru&#x0364;chte ganz untauglich &#x2014; wenn<lb/>
auf einer Seite die Ka&#x0364;lte des Blutes &#x017F;ich dem Gei&#x017F;te<lb/>
mittheilt, warum nicht eben &#x017F;o die Wa&#x0364;rme des Gei&#x017F;tes<lb/>
&#x017F;eine Bewegung dem Blute? (hier &#x017F;ind einige <hi rendition="#aq">Anno</hi><lb/>
1742. 38. 35. 37. 29. geborne Schweizer angefu&#x0364;hrt. &#x2014;)<lb/>
Wende nicht ein, ich &#x017F;pra&#x0364;ch hier nur von ausgezeich-<lb/>
neten Ma&#x0364;nnern &#x2014; &#x017F;ie dienen zum Mu&#x017F;ter und Vor-<lb/>
bilde, man ahme &#x017F;ie in be&#x017F;cheidner Entfernung nach,<lb/>
auch fu&#x0364;r uns &#x017F;ey <hi rendition="#aq">nulla dies &#x017F;ine linea,</hi> damit auch<lb/>
ein&#x017F;t fu&#x0364;r uns, unter naher Vollendung des Tagewerks,<lb/>
jener be&#x017F;eeligende Zuruf er&#x017F;challe Matth. <hi rendition="#aq">XXV,</hi> 22, 23.</p><lb/>
          <floatingText>
            <body>
              <div>
                <p><hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Selb&#x017F;tge&#x017F;pra&#x0364;ch des Grei&#x017F;es um Mit-<lb/>
ternacht.</hi></hi><lb/>
&#x2014; &#x2014; Ern&#x017F;tes Schweigen herr&#x017F;cht um mich her &#x2014;<lb/>
beynah ganz ver&#x017F;chwunden i&#x017F;t vor mir die a&#x0364;ußre Welt.<lb/>
Wie aber? Nur de&#x017F;to inniger fu&#x0364;hl ich mein eignes<lb/>
Da&#x017F;eyn, mich &#x017F;elb&#x017F;t. Jm Jnnern regt &#x017F;ich auch nach<lb/>
dem Ab&#x017F;terben der Sinne ein Bewußt&#x017F;eyn, mein<lb/>
Selb&#x017F;tgefu&#x0364;hl. Al&#x017F;o denn, wenn fu&#x0364;r mich die a&#x0364;ußre<lb/>
Welt nichts mehr i&#x017F;t, und ich nichts mehr fu&#x0364;r &#x017F;ie,<lb/>
&#x017F;o entdeck ich doch eine eigne Welt in mir &#x017F;elb&#x017F;t, in<lb/>
mir &#x017F;elb&#x017F;t find ich Leben und Lebensgenuß, in mir<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t den Vorgenuß der Un&#x017F;terblichkeit, in mir &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
find ich &#x017F;elige Unterhaltung mit eignem Gei&#x017F;te, und<lb/>
mit dem unendlichen Allgei&#x017F;te, der dem meinigen<lb/>
&#x017F;o nahe i&#x017F;t und &#x017F;ich ihm mittheilt &#x2014; du Gott bi&#x017F;t,<lb/>
der i&#x017F;t, der war, und der &#x017F;eyn wird, wenn ich nur<lb/>
Dich habe, &#x017F;o frag ich nicht nach Himmel und Erde.<lb/>
Ewig mein Vater, ich ewig Dein Kind, Dir zur<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">** 2</fw><lb/></p>
              </div>
            </body>
          </floatingText>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0548] weder ein weiſer, noch redlicher Arzt, der dich bere- den wollte, im Alter habe man nichts beſſeres zu thun, als der Ruhe zu pflegen. So wenig irgend ein Klima, eben ſo wenig iſt irgend ein Lebensalter zur Hervor- bringung gar aller Fruͤchte ganz untauglich — wenn auf einer Seite die Kaͤlte des Blutes ſich dem Geiſte mittheilt, warum nicht eben ſo die Waͤrme des Geiſtes ſeine Bewegung dem Blute? (hier ſind einige Anno 1742. 38. 35. 37. 29. geborne Schweizer angefuͤhrt. —) Wende nicht ein, ich ſpraͤch hier nur von ausgezeich- neten Maͤnnern — ſie dienen zum Muſter und Vor- bilde, man ahme ſie in beſcheidner Entfernung nach, auch fuͤr uns ſey nulla dies ſine linea, damit auch einſt fuͤr uns, unter naher Vollendung des Tagewerks, jener beſeeligende Zuruf erſchalle Matth. XXV, 22, 23. Selbſtgeſpraͤch des Greiſes um Mit- ternacht. — — Ernſtes Schweigen herrſcht um mich her — beynah ganz verſchwunden iſt vor mir die aͤußre Welt. Wie aber? Nur deſto inniger fuͤhl ich mein eignes Daſeyn, mich ſelbſt. Jm Jnnern regt ſich auch nach dem Abſterben der Sinne ein Bewußtſeyn, mein Selbſtgefuͤhl. Alſo denn, wenn fuͤr mich die aͤußre Welt nichts mehr iſt, und ich nichts mehr fuͤr ſie, ſo entdeck ich doch eine eigne Welt in mir ſelbſt, in mir ſelbſt find ich Leben und Lebensgenuß, in mir ſelbſt den Vorgenuß der Unſterblichkeit, in mir ſelbſt find ich ſelige Unterhaltung mit eignem Geiſte, und mit dem unendlichen Allgeiſte, der dem meinigen ſo nahe iſt und ſich ihm mittheilt — du Gott biſt, der iſt, der war, und der ſeyn wird, wenn ich nur Dich habe, ſo frag ich nicht nach Himmel und Erde. Ewig mein Vater, ich ewig Dein Kind, Dir zur ** 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/548
Zitationshilfe: Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/548>, abgerufen am 19.05.2024.