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Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823.

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Obgleich in meinen Spätlingen
Seite 306 schon ein Brief dieses edlen geist-
reichen Weltmanns gedruckt ist, so besorg
ich doch nicht, durch die Mittheilung dieses
letzten an mich die Geduld meiner Leser zu
mißbrauchen.


Jhr Brief vom 4ten v. M. hat mir, lieber S.
viel Freude gemacht, nicht blos dadurch, daß Sie mich
wieder etwas von sich haben wissen lassen, sondern
Sie haben auch einen großen Stein des Anstoßes, der
seit fünf Monaten auf meinem Herzen lag, vorläufig
wenigstens etwas fortgerückt. Die letzten 10 bis 11
Wochen kann ich auf meine Krankheit und meine jetzige
Cur, welche ich auch für eine halbe Krankheit ausge-
ben kann, schieben, da sie mir fast alle Arbeit unter-
sagt -- in den vorgebenden war ich zum Briefschreiben
nicht aufgelegt, und Gott weiß, ob ich es jetzt bin,
denn wenn ich an Sie schreibe, such' ich von alten
Zeiten her so gern von meinem innern Leben, von
meiner innern Welt mich zu unterhalten, und mag
Sie gern an meinen Gefühlen Theil nehmen lassen;
dazu aber gehört, sie sich selbst ins Leben zurückrufen
zu können. Diesem Leben aber bin ich durch die har-
ten Schläge, die das Schicksal mir geschlagen hat,
beynah ganz abgestorben. Wenn Sie sagen, Sie
könnten mit keinem so sprechen wie mit mir, so ant-
wort ich, ich habe hier auch keinen Ableiter für meine
Empfindungen, kein menschliches Geschöpf, dem ich
sie mittheilen kann; sie müssen daher wo nicht ganz
erstarren, doch am Ende so sich abstumpfen, daß sie
in eine Art von Ohnmacht ausgehen.

Wo soll man in unsern Jahren einen Freund fin-
den, der uns die Gefühle der Jugend und die Freuden
der vergangnen Zeiten in die Gegenwart übertragen
könnte? Alte Freunde sollten daher, nachdem die Zeit
sie gesichtet hat, sich immer näher an einander schließen.
D. E., der mir ihren Brief brachte, sagte mir, Sie

Obgleich in meinen Spaͤtlingen
Seite 306 ſchon ein Brief dieſes edlen geiſt-
reichen Weltmanns gedruckt iſt, ſo beſorg
ich doch nicht, durch die Mittheilung dieſes
letzten an mich die Geduld meiner Leſer zu
mißbrauchen.


Jhr Brief vom 4ten v. M. hat mir, lieber S.
viel Freude gemacht, nicht blos dadurch, daß Sie mich
wieder etwas von ſich haben wiſſen laſſen, ſondern
Sie haben auch einen großen Stein des Anſtoßes, der
ſeit fuͤnf Monaten auf meinem Herzen lag, vorlaͤufig
wenigſtens etwas fortgeruͤckt. Die letzten 10 bis 11
Wochen kann ich auf meine Krankheit und meine jetzige
Cur, welche ich auch fuͤr eine halbe Krankheit ausge-
ben kann, ſchieben, da ſie mir faſt alle Arbeit unter-
ſagt — in den vorgebenden war ich zum Briefſchreiben
nicht aufgelegt, und Gott weiß, ob ich es jetzt bin,
denn wenn ich an Sie ſchreibe, ſuch’ ich von alten
Zeiten her ſo gern von meinem innern Leben, von
meiner innern Welt mich zu unterhalten, und mag
Sie gern an meinen Gefuͤhlen Theil nehmen laſſen;
dazu aber gehoͤrt, ſie ſich ſelbſt ins Leben zuruͤckrufen
zu koͤnnen. Dieſem Leben aber bin ich durch die har-
ten Schlaͤge, die das Schickſal mir geſchlagen hat,
beynah ganz abgeſtorben. Wenn Sie ſagen, Sie
koͤnnten mit keinem ſo ſprechen wie mit mir, ſo ant-
wort ich, ich habe hier auch keinen Ableiter fuͤr meine
Empfindungen, kein menſchliches Geſchoͤpf, dem ich
ſie mittheilen kann; ſie muͤſſen daher wo nicht ganz
erſtarren, doch am Ende ſo ſich abſtumpfen, daß ſie
in eine Art von Ohnmacht ausgehen.

Wo ſoll man in unſern Jahren einen Freund fin-
den, der uns die Gefuͤhle der Jugend und die Freuden
der vergangnen Zeiten in die Gegenwart uͤbertragen
koͤnnte? Alte Freunde ſollten daher, nachdem die Zeit
ſie geſichtet hat, ſich immer naͤher an einander ſchließen.
D. E., der mir ihren Brief brachte, ſagte mir, Sie

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[492/0509] Obgleich in meinen Spaͤtlingen Seite 306 ſchon ein Brief dieſes edlen geiſt- reichen Weltmanns gedruckt iſt, ſo beſorg ich doch nicht, durch die Mittheilung dieſes letzten an mich die Geduld meiner Leſer zu mißbrauchen. Berlin den 4ten Juny 1815. Jhr Brief vom 4ten v. M. hat mir, lieber S. viel Freude gemacht, nicht blos dadurch, daß Sie mich wieder etwas von ſich haben wiſſen laſſen, ſondern Sie haben auch einen großen Stein des Anſtoßes, der ſeit fuͤnf Monaten auf meinem Herzen lag, vorlaͤufig wenigſtens etwas fortgeruͤckt. Die letzten 10 bis 11 Wochen kann ich auf meine Krankheit und meine jetzige Cur, welche ich auch fuͤr eine halbe Krankheit ausge- ben kann, ſchieben, da ſie mir faſt alle Arbeit unter- ſagt — in den vorgebenden war ich zum Briefſchreiben nicht aufgelegt, und Gott weiß, ob ich es jetzt bin, denn wenn ich an Sie ſchreibe, ſuch’ ich von alten Zeiten her ſo gern von meinem innern Leben, von meiner innern Welt mich zu unterhalten, und mag Sie gern an meinen Gefuͤhlen Theil nehmen laſſen; dazu aber gehoͤrt, ſie ſich ſelbſt ins Leben zuruͤckrufen zu koͤnnen. Dieſem Leben aber bin ich durch die har- ten Schlaͤge, die das Schickſal mir geſchlagen hat, beynah ganz abgeſtorben. Wenn Sie ſagen, Sie koͤnnten mit keinem ſo ſprechen wie mit mir, ſo ant- wort ich, ich habe hier auch keinen Ableiter fuͤr meine Empfindungen, kein menſchliches Geſchoͤpf, dem ich ſie mittheilen kann; ſie muͤſſen daher wo nicht ganz erſtarren, doch am Ende ſo ſich abſtumpfen, daß ſie in eine Art von Ohnmacht ausgehen. Wo ſoll man in unſern Jahren einen Freund fin- den, der uns die Gefuͤhle der Jugend und die Freuden der vergangnen Zeiten in die Gegenwart uͤbertragen koͤnnte? Alte Freunde ſollten daher, nachdem die Zeit ſie geſichtet hat, ſich immer naͤher an einander ſchließen. D. E., der mir ihren Brief brachte, ſagte mir, Sie

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Zitationshilfe: Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823, S. 492. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/509>, abgerufen am 18.05.2024.