Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scheffel, Joseph Victor von: Ekkehard. Frankfurt (Main), 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

So Ihr Euch überzeugen wollt, sprach der Abt, die Großen in
der äußern Schule wissen nicht minder, was Zucht und Gehorsam ist.

Die Herzogin nickte. Da führte sie der Abt zur äußern Kloster-
schule, wo zumeist vornehmer Laien Söhne und Diejenigen erzogen
wurden, die sich weltgeistlichem Stand widmen wollten.

Sie traten in die Klasse der Aeltesten ein. Auf der Lehrkanzel
stand Ratpert der Vielgelehrte und unterwies seine Jugend im Ver-
ständniß von Aristoteles Logica. Geduckt saßen die Schüler über ihren
Pergamenten, kaum wandten sich die Häupter nach den Eingetretenen.
Der Lehrmeister gedachte Ehre einzulegen: Notker Labeo! rief er.
Der war die Perle seiner Schüler, die Hoffnung der Wissenschaft;
auf schmächtigem Körper ein mächtiges Haupt, dran eine gewaltige
Unterlippe kritisch in die Welt hervorragte, das Wahrzeichen strenger
Ausdauer auf den steinigen Pfaden des Forschens und Ursache seines
Uebernamens.

Der wird brav, flüsterte der Abt, die ganze Welt sei ein Buch,
hat er schon im zwölften Jahr gesagt, und die Klöster die classischen
Stellen drin.61)

Der Aufgerufene ließ seine klugen Aeuglein über den griechischen
Text hingleiten und übersetzte mit gewichtigem Ernst den stagyritischen
Tiefsinn:

..."Findest du an einem Holze oder Steine einen als Linie lau-
fenden Strich, der ist der eben liegenden Theile gemeine March.
Spaltet sich an dem Striche der Stein oder das Holz entzwei, so
sehen wir strichweise zwei Durchschnitte an dem sichtbaren Spalte, die
vorher nur ein Strich und Linie waren. Und über dies sehen wir
zwo neue Oberflächen, die also breit sind, als dick der Körper war,
da man vor die neue Oberfläche nicht sah. Darum erhellet, daß dieser
Körper vorhin zusammenhängend war.62)"

Aber wie dieser Begriff des Zusammenhängenden glücklich heraus-
geklaubt war, streckten etliche der jungen Logiker die Köpfe zusammen
und flüsterten, und flüsterten lauter, -- selbst der Klosterschüler He-
pidan, der, unbeirrt von Notker's trefflicher Verdeutschung, seine ganze
Mühe aufwandte, einen Teufel mit doppeltem Flügelpaar und Ringel-
schwanz in die Bank einzuschneiden, stellte seine Arbeit ein ... itzt
wandte der Lehrmeister sich an den Folgenden: wie wird aber die

So Ihr Euch überzeugen wollt, ſprach der Abt, die Großen in
der äußern Schule wiſſen nicht minder, was Zucht und Gehorſam iſt.

Die Herzogin nickte. Da führte ſie der Abt zur äußern Kloſter-
ſchule, wo zumeiſt vornehmer Laien Söhne und Diejenigen erzogen
wurden, die ſich weltgeiſtlichem Stand widmen wollten.

Sie traten in die Klaſſe der Aelteſten ein. Auf der Lehrkanzel
ſtand Ratpert der Vielgelehrte und unterwies ſeine Jugend im Ver-
ſtändniß von Ariſtoteles Logica. Geduckt ſaßen die Schüler über ihren
Pergamenten, kaum wandten ſich die Häupter nach den Eingetretenen.
Der Lehrmeiſter gedachte Ehre einzulegen: Notker Labeo! rief er.
Der war die Perle ſeiner Schüler, die Hoffnung der Wiſſenſchaft;
auf ſchmächtigem Körper ein mächtiges Haupt, dran eine gewaltige
Unterlippe kritiſch in die Welt hervorragte, das Wahrzeichen ſtrenger
Ausdauer auf den ſteinigen Pfaden des Forſchens und Urſache ſeines
Uebernamens.

Der wird brav, flüſterte der Abt, die ganze Welt ſei ein Buch,
hat er ſchon im zwölften Jahr geſagt, und die Klöſter die claſſiſchen
Stellen drin.61)

Der Aufgerufene ließ ſeine klugen Aeuglein über den griechiſchen
Text hingleiten und überſetzte mit gewichtigem Ernſt den ſtagyritiſchen
Tiefſinn:

...„Findeſt du an einem Holze oder Steine einen als Linie lau-
fenden Strich, der iſt der eben liegenden Theile gemeine March.
Spaltet ſich an dem Striche der Stein oder das Holz entzwei, ſo
ſehen wir ſtrichweiſe zwei Durchſchnitte an dem ſichtbaren Spalte, die
vorher nur ein Strich und Linie waren. Und über dies ſehen wir
zwo neue Oberflächen, die alſo breit ſind, als dick der Körper war,
da man vor die neue Oberfläche nicht ſah. Darum erhellet, daß dieſer
Körper vorhin zuſammenhängend war.62)

Aber wie dieſer Begriff des Zuſammenhängenden glücklich heraus-
geklaubt war, ſtreckten etliche der jungen Logiker die Köpfe zuſammen
und flüſterten, und flüſterten lauter, — ſelbſt der Kloſterſchüler He-
pidan, der, unbeirrt von Notker's trefflicher Verdeutſchung, ſeine ganze
Mühe aufwandte, einen Teufel mit doppeltem Flügelpaar und Ringel-
ſchwanz in die Bank einzuſchneiden, ſtellte ſeine Arbeit ein ... itzt
wandte der Lehrmeiſter ſich an den Folgenden: wie wird aber die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0062" n="40"/>
        <p>So Ihr Euch überzeugen wollt, &#x017F;prach der Abt, die Großen in<lb/>
der äußern Schule wi&#x017F;&#x017F;en nicht minder, was Zucht und Gehor&#x017F;am i&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>Die Herzogin nickte. Da führte &#x017F;ie der Abt zur äußern Klo&#x017F;ter-<lb/>
&#x017F;chule, wo zumei&#x017F;t vornehmer Laien Söhne und Diejenigen erzogen<lb/>
wurden, die &#x017F;ich weltgei&#x017F;tlichem Stand widmen wollten.</p><lb/>
        <p>Sie traten in die Kla&#x017F;&#x017F;e der Aelte&#x017F;ten ein. Auf der Lehrkanzel<lb/>
&#x017F;tand Ratpert der Vielgelehrte und unterwies &#x017F;eine Jugend im Ver-<lb/>
&#x017F;tändniß von Ari&#x017F;toteles Logica. Geduckt &#x017F;aßen die Schüler über ihren<lb/>
Pergamenten, kaum wandten &#x017F;ich die Häupter nach den Eingetretenen.<lb/>
Der Lehrmei&#x017F;ter gedachte Ehre einzulegen: Notker Labeo! rief er.<lb/>
Der war die Perle &#x017F;einer Schüler, die Hoffnung der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft;<lb/>
auf &#x017F;chmächtigem Körper ein mächtiges Haupt, dran eine gewaltige<lb/>
Unterlippe kriti&#x017F;ch in die Welt hervorragte, das Wahrzeichen &#x017F;trenger<lb/>
Ausdauer auf den &#x017F;teinigen Pfaden des For&#x017F;chens und Ur&#x017F;ache &#x017F;eines<lb/>
Uebernamens.</p><lb/>
        <p>Der wird brav, flü&#x017F;terte der Abt, die ganze Welt &#x017F;ei ein Buch,<lb/>
hat er &#x017F;chon im zwölften Jahr ge&#x017F;agt, und die Klö&#x017F;ter die cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen<lb/>
Stellen drin.<note xml:id="ed61" next="#edt61" place="end" n="61)"/></p><lb/>
        <p>Der Aufgerufene ließ &#x017F;eine klugen Aeuglein über den griechi&#x017F;chen<lb/>
Text hingleiten und über&#x017F;etzte mit gewichtigem Ern&#x017F;t den &#x017F;tagyriti&#x017F;chen<lb/>
Tief&#x017F;inn:</p><lb/>
        <p>...&#x201E;Finde&#x017F;t du an einem Holze oder Steine einen als Linie lau-<lb/>
fenden Strich, der i&#x017F;t der eben liegenden Theile gemeine March.<lb/>
Spaltet &#x017F;ich an dem Striche der Stein oder das Holz entzwei, &#x017F;o<lb/>
&#x017F;ehen wir &#x017F;trichwei&#x017F;e zwei Durch&#x017F;chnitte an dem &#x017F;ichtbaren Spalte, die<lb/>
vorher nur <hi rendition="#g">ein</hi> Strich und Linie waren. Und über dies &#x017F;ehen wir<lb/>
zwo neue Oberflächen, die al&#x017F;o breit &#x017F;ind, als dick der Körper war,<lb/>
da man vor die neue Oberfläche nicht &#x017F;ah. Darum erhellet, daß die&#x017F;er<lb/>
Körper vorhin zu&#x017F;ammenhängend war.<note xml:id="ed62" next="#edt62" place="end" n="62)"/>&#x201C;</p><lb/>
        <p>Aber wie die&#x017F;er Begriff des Zu&#x017F;ammenhängenden glücklich heraus-<lb/>
geklaubt war, &#x017F;treckten etliche der jungen Logiker die Köpfe zu&#x017F;ammen<lb/>
und flü&#x017F;terten, und flü&#x017F;terten lauter, &#x2014; &#x017F;elb&#x017F;t der Klo&#x017F;ter&#x017F;chüler He-<lb/>
pidan, der, unbeirrt von Notker's trefflicher Verdeut&#x017F;chung, &#x017F;eine ganze<lb/>
Mühe aufwandte, einen Teufel mit doppeltem Flügelpaar und Ringel-<lb/>
&#x017F;chwanz in die Bank einzu&#x017F;chneiden, &#x017F;tellte &#x017F;eine Arbeit ein ... itzt<lb/>
wandte der Lehrmei&#x017F;ter &#x017F;ich an den Folgenden: wie wird aber die<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[40/0062] So Ihr Euch überzeugen wollt, ſprach der Abt, die Großen in der äußern Schule wiſſen nicht minder, was Zucht und Gehorſam iſt. Die Herzogin nickte. Da führte ſie der Abt zur äußern Kloſter- ſchule, wo zumeiſt vornehmer Laien Söhne und Diejenigen erzogen wurden, die ſich weltgeiſtlichem Stand widmen wollten. Sie traten in die Klaſſe der Aelteſten ein. Auf der Lehrkanzel ſtand Ratpert der Vielgelehrte und unterwies ſeine Jugend im Ver- ſtändniß von Ariſtoteles Logica. Geduckt ſaßen die Schüler über ihren Pergamenten, kaum wandten ſich die Häupter nach den Eingetretenen. Der Lehrmeiſter gedachte Ehre einzulegen: Notker Labeo! rief er. Der war die Perle ſeiner Schüler, die Hoffnung der Wiſſenſchaft; auf ſchmächtigem Körper ein mächtiges Haupt, dran eine gewaltige Unterlippe kritiſch in die Welt hervorragte, das Wahrzeichen ſtrenger Ausdauer auf den ſteinigen Pfaden des Forſchens und Urſache ſeines Uebernamens. Der wird brav, flüſterte der Abt, die ganze Welt ſei ein Buch, hat er ſchon im zwölften Jahr geſagt, und die Klöſter die claſſiſchen Stellen drin. ⁶¹⁾ Der Aufgerufene ließ ſeine klugen Aeuglein über den griechiſchen Text hingleiten und überſetzte mit gewichtigem Ernſt den ſtagyritiſchen Tiefſinn: ...„Findeſt du an einem Holze oder Steine einen als Linie lau- fenden Strich, der iſt der eben liegenden Theile gemeine March. Spaltet ſich an dem Striche der Stein oder das Holz entzwei, ſo ſehen wir ſtrichweiſe zwei Durchſchnitte an dem ſichtbaren Spalte, die vorher nur ein Strich und Linie waren. Und über dies ſehen wir zwo neue Oberflächen, die alſo breit ſind, als dick der Körper war, da man vor die neue Oberfläche nicht ſah. Darum erhellet, daß dieſer Körper vorhin zuſammenhängend war. ⁶²⁾ “ Aber wie dieſer Begriff des Zuſammenhängenden glücklich heraus- geklaubt war, ſtreckten etliche der jungen Logiker die Köpfe zuſammen und flüſterten, und flüſterten lauter, — ſelbſt der Kloſterſchüler He- pidan, der, unbeirrt von Notker's trefflicher Verdeutſchung, ſeine ganze Mühe aufwandte, einen Teufel mit doppeltem Flügelpaar und Ringel- ſchwanz in die Bank einzuſchneiden, ſtellte ſeine Arbeit ein ... itzt wandte der Lehrmeiſter ſich an den Folgenden: wie wird aber die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scheffel_ekkehard_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scheffel_ekkehard_1855/62
Zitationshilfe: Scheffel, Joseph Victor von: Ekkehard. Frankfurt (Main), 1855, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffel_ekkehard_1855/62>, abgerufen am 03.05.2024.